Exklusiv: Das Kapitel „Small is beautiful“ aus dem Buch von Ali Mahlodji
Wachstum um des Wachstums Willen ist dein Grab
Die Natur wächst und vergeht – und der Mensch als Teil von ihr auch. Unternehmen werden von Menschen gebaut. Sie sind unser kreativer Beitrag zur Natur. Warum können wir nicht akzeptieren, dass es auch für ihr Wachstum Grenzen gibt? Vom Philosophen und Umweltaktivisten Leopold Kohr stammt der Ausspruch »Small is beautiful«. In seinem Buch „Das Ende der Großen. Zurück zum menschlichen Maß“ beschreibt er, dass alle Dinge, die wir erschaffen, eine organische Wachstumsgröße haben. Wenn sie überschritten wird, gleitet unsere Schöpfung ins Chaos über. Wir können sie nicht mehr beherrschen. Kohr bezieht diese Theorie auf Nationen und Unternehmen. Wir leben in einer Zeit, in der wir dieses Phänomen gut beobachten können. Viele große altehrwürdige Konzerne und Institutionen kranken und werden von wendigen, kleinen Einheiten links und rechts überholt.
Was macht dieser Wunsch immer weiterzuwachsen, mit uns Menschen?
Macht es uns glücklich? Ich habe viele finanziell sehr erfolgreiche Menschen kennengelernt. Doch Glück und Zufriedenheit haben die wenigsten ausgestrahlt. Die meisten waren innerlich unruhig und getrieben. Ich habe auch kaum einen Chef erlebt, der sich mit dem Wachstum seines Unternehmens zufrieden gab und sich für das kommende Jahr die gleichen Ziele wie für das laufende gesetzt hat. Die simple Rechnung dahinter ist: Mehr Personal, mehr Kosten, mehr Umsatz. Deshalb müssen wir in den Himmel wachsen. Und dabei geben wir Jahr für Jahr die Möglichkeit, unsere Entwicklung zu steuern, aus der Hand.
Unter Druck entstehen Diamanten
Die Maxime, ständig zu wachsen, entfacht einen unheimlichen Druck auf die Verantwortlichen und die Mitarbeiter. »Unter Druck entstehen Diamanten«, sagte mir mal ein Vorstand. Aber Menschen sind keine Steine. Druck setzt für einen kurzen Zeitraum Kräfte frei und lässt uns Aufgaben zu Ende bringen, die wir sonst nicht erledigt bekommen hätten. Hält sich dieser Zustand über einen längeren Zeitraum konstant auf einem hohen Level, dann verwandeln sich die erzwungene Kreativität und Schaffenskraft in Versagensangst. Dieser Dauerdruck ist eine Art von negativem Stress, der krankmacht.
Starker Druck von außen bringt uns dazu, ein Tempo zu laufen, das nicht das unsere ist. Deshalb sollten intrinsische Zielsetzungen die Zukunft der Führung sein. Wenn man selbst beginnt, sich Ziele zu setzen, die dem eigenen geistigen und körperlichen Vermögen entsprechen, ist es weniger wahrscheinlich, aus dem Ruder zu laufen. Legen wir aber den Fokus auf Zielsetzungen, die nur von außen festgelegt werden, laufen wir Gefahr, in einem Hamsterrad zu landen, dessen Betrieb wir nicht mehr stoppen können.
Manche Selbständige und kleine Familienunternehmen haben das erkannt. Sie nutzen die Freiheit, die ihnen ein flexibles Arbeitsumfeld bietet, und stellen andere Attribute in den Vordergrund. Zusammenhalt, Kostendeckung, Nachhaltigkeit. Niemand muss auf Teufel komm raus jedes Jahr um 10 Prozent wachsen, nur weil es der Markt so will.
Schrumpfkur? Fehlanzeige.
Bei Sun Microsystems habe ich diese Spirale von ihrer bittersten Seite kennengelernt. Wir hatten gerade ein schlechtes Jahr hinter uns gebracht. Und waren nur froh, dass es vorbei war. Wir standen knietief in den roten Zahlen. In der Zeit, als ich dort arbeitete, glaubte das Unternehmen noch an einen Turnaround. Ein CFO – Chief Financial Officer – wurde angeheuert, der weiter versuchte, die Zahlen zu optimieren, und hier und da ein paar Anpassungen vornahm. Währenddessen hatten HP und IBM begonnen, die besten Leute abzuwerben. Die Stimmung war im Keller. Bei jedem Strategiemeeting erklärten internationale Manager, wie es wieder aufwärts gehen und um wie viel Sun im nächsten Jahr wachsen werde. Nämlich mindestens schneller als der Markt. Branchenanalysen gingen von 13 Prozent Wachstum aus. Wir wollten 14 schaffen. Wir Mitarbeiter wussten, wie weit diese Träume von der Realität entfernt waren. 14 Prozent? Wir hatten massenhaft Kunden und Talente an die Konkurrenz verloren und hätten dringend neue Perspektiven gebraucht. Ein erster Schritt wäre gewesen, sich gesundzuschrumpfen. Eine Schrumpfkur von 14 Prozent wäre angebracht gewesen.
Die Wachstumsillusion
Bei heutigen Startups läuft diese Wachstumsillusion ähnlich ab. Sie bekommen zu Beginn ein fettes Investment und wollen mit dem fremden Geld in den Himmel wachsen. Platz 1 der Download-Charts. Mindestens. Fragt man nach dem Warum, gibt es keine Antwort. Bei 95 Prozent der jungen Unternehmen geht es nicht um Problemlösungen, auch wenn das auf den Visitenkarten steht, sondern um Wachstum. Höher, schneller, weiter. Am besten quer in eine Branche hinein, deren aufgeblähte Struktur hunderttausende Jobs sichert.
Wachstum funktioniert auf Kosten der Qualität und entfernt den Gründer weit von seinen anfänglichen Zielen. Das ist so, als würde ich meinem zukünftigen Sohn sagen: »Du bist 1,80 Meter groß. Super. Jetzt schauen wir, dass wir dich auf 1,90 Meter bekommen, damit du besser im Basketball wirst.« Dann träufele ich ihm Wachstumshormone in die Frühstücksflocken, und er wächst. Nur dass seine Knochen porös werden, die Arterien verstopfen und er kaum mehr geradeaus laufen kann, geschweige denn Basketball spielen.
Neue Kleidung, neue Schminke, neue Sneakers
Diese Illusion zerrüttet unsere Gesellschaft und unser Miteinander. Alle wollen immer schöner, immer größer, immer besser werden. Sie kaufen Apps, die ihnen helfen, ihr Körperfett runterzutrainieren. Sie kaufen jede Woche neue Kleidung, neue Schminke, neue Sneakers. Weil die Mode plötzlich 52-mal pro Jahr neue Trends vorgaukelt. Dieser Wachstumswahnsinn wird uns noch das Leben kosten und höhlt jetzt schon unsere Natur und unsere Umwelt aus.
Es geht aber auch anders
Ein Startup mit Schwerpunkt auf Medizintechnik für Kinder hatte in den ersten beiden Jahren phantastische Umsätze. Deshalb haben sie Personal eingestellt. Einer der Gründer hat sich hingesetzt und die Kosten durchgerechnet. Er erkannte, dass bei der aktuellen Konstellation ein weiteres Wachstum in dieser Größenordnung nicht zu erwarten ist. Er hat intern durchgeboxt, dass die Planung berücksichtigt, dass das Startup im dritten Jahr nicht wachsen würde. Die Gründer haben die Hälfte der Belegschaft gekündigt, obwohl sie keine Zahlungsprobleme hatten, und sich eine Strategie überlegt. Ihre Fragen waren: Müssen wir um jeden Preis wachsen? Steigert sich unsere Lebensqualität, wenn wir in zehn Jahren tausend Mitarbeiter haben? Es zerreißt uns vor Arbeit. Was ist der Zweck, dass wir uns aufopfern? Sie entschieden, dass sie Umsätze und Mitarbeiter haben wollten, aber auch Zeit für ihre Familien und eine nachhaltige Entwicklung. Daran haben sie die Umsatzziele angepasst. Sie sind gewachsen, aber nur auf dreißig Leute. Der Plan ist aufgegangen. Dem Unternehmen geht es gut.
Wachstumsstreben gibt ein Tempo vor, das kaum mehr zu drosseln ist.
Mein Leben lang habe ich gedacht, ich will dieses »höher, schneller, weiter«. Und dann bist du in einem Affentempo an einem Punkt, der dich körperlich und psychisch an deine Grenzen bringt, und fragst dich: »Muss das denn so sein?« Und da hat es bei mir zu rattern begonnen, ob ich langfristig der richtige CEO für whatchado bin. Wachstum ist wichtig, nur eben nicht, wenn es künstlich die Grenzen sprengt. Seien es die des Unternehmens oder die eigenen, die man als Mensch gerne mal übersieht.
Mittlerweile bremse ich, bevor solche Entscheidungen überhaupt anstehen, und erkläre den Investoren, weshalb ich permanentes Wachstum auf hohem Tempo für schädlich halte. Das Schöne ist, dass unsere Investoren – entgegen dem Trend – Nachhaltigkeit vor bedingungsloses Wachstum stellen und wir uns auch deshalb so gut verstehen. Wenn Startups mich als Berater engagieren, und sie schaffen es nicht, mir schlüssig zu erklären, weshalb sie so dramatisch wachsen wollen, wie sie es auf ihren PowerPoint-Folien präsentieren, dann können sie mich in dieser Sekunde von ihrer Mentorenliste streichen.
»Das gefällt den Investoren«, gilt übrigens nicht als Argument.