„Carbon neutral“?: Apple setzt auf fragwürdige CO2-Gutschriften von Verra
Komplett CO2-neutrale Produkte bis 2030; Ökostrom und Recycling überall; und dann tritt auch noch Schauspielerin Octavia Spencer als „Mutter Natur“ während der Keynote auf. Genau. Apple hatte bei der Präsentation des neuen iPhone 15 wenig mehr zu erzählen als der von der EU erzwungene USB-C-Anschluss – und versuchte deswegen die Aufmerksamkeit auf seine Umweltschutzbemühungen zu lenken. Das resultierte unter anderem darin, dass die neuen Apple Watches (Series 9 sowie Ultra 2) als CO2-neutral vermarktet werden.
„Einen Großteil der Emissionen senken wir durch Innovationen in Materialien, sauberen Strom und einen CO₂ armen Versand. Und den kleinen Rest, der noch übrig ist, kompensieren wir mit Investitionen in naturbasierte Projekte“, heißt es dazu seitens Apple. Der iKonzern setzt damit wie viele andere Unternehmen auch auf CO2-Kompensation durch Gutschriften – und die sind seit geraumer Zeit mehr als umstritten.
Trending Topics berichtete ausführlich darüber, dass gerade durch die Organisation Verra zertifizierte CO2-Gutschriften mehr als fragwürdig sind. Apple jedoch setzt bei der CO2-Kompensation seiner Produkte auch auf Verra. „Das Unternehmen verwendet Zertifikate von Projekten, die nach internationalen Standards zertifiziert sind, beispielsweise Verra; der Standard der Climate, Community & Biodiversity Alliance (CCBA); oder das Forest Stewardship Council“, heißt es seitens Apple.
Apple setzt auch auf Verra-Zertifikate
Verra, eine NGO mit Hauptsitz in Washington DC, ist für seinen „Verified Carbon Standard“ und seine REDD+-Projekte berühmt geworden – und mittlerweile leider auch berüchtigt. Denn nicht nur die Recherchen des britischen Guardian und der deutschen Die Zeit, auch eine neue Studie des UC Berkeley Carbon Trading Project zeigt: Durch Verra zertifizierte Waldprojekte, auf deren Basis CO2-Gutschriften zur Kompensation vergeben werden, sind weitgehend wertlos. Vor allem die so genannten REDD+-Projekte (kurz für „Reducing Emissions from Deforestation and Forest Degradation“) stehen massiv in der Kritik. Laut der Berkeley-Studie würden die derzeitigen REDD+-Methoden CO2-Gutschriften erzeugen, die „nur einen kleinen
einen Bruchteil des behaupteten Klimanutzens darstellen“. Die Schätzungen der Emissionsreduktionen wären „übertrieben“.
CO2-Gutschriften funktionieren folgendermaßen: Unternehmen A erzeugt durch seine Produkte Menge X an CO2, zumindest hunderttausende oder gar Millionen an Tonnen. Um das CO2 zu reduzieren, wird mit Ökostrom, Recycling, optimierter Logistik, nachhaltiger Verpackung usw. gearbeitet – doch auf Null schafft es kein Unternehmen, weil Rohstoffe, Transport usw. eben trotzdem CO2 erzeugen. Will man ein Produkt wie die Apple Watch „CO2-neutral“ nennen, muss man also CO2-Gutschriften kaufen. Die sollen über Zertifikate sicherstellen, dass irgendwo auf dem Planeten Menge Y an CO2 gesenkt wird – meistens durch Wiederaufforstung, denn Bäume speichern CO2. Unternehmen A kann also die CO2-Menge Y von seiner selbst produzierten Menge X abziehen, und kommt so Richtung Null. Voila, fertig ist das CO2-neutrale Produkt.
Wie die Apple Watches konkret „carbon neutral“ werden, ist seitens Apple bisher nicht zu erfahren. Das Grundprinzip der Co2-Kompensationen läuft so: Apple etwa berechnet seine Unternehmensemissionen (Scope 1, 2 & 3) mit 324.060 Tonnen CO2-Äquivalente (inkl. Apple Stores, Pendelfahrten, Geshcäftsreisen, Rechenzentren, Home Office usw.), und kauft dann Gutschriften für 324.100 Tonnen CO2-Äquivalente. Somit ist der Unternehmensbetrieb „CO2-neutral“. Ähnliches kann man dann für Rohstoffe, Lieferung, Fertigung, Produktnutzung oder Logistik berechnen. Entlang der Wertschöpfungskette sind die CO2-Emissionen aber noch so hoch, dass diese durch CO2-Gutschriften nicht kompensiert werden könnten. Wie hoch die Kosten für die Förderung von Projekten zum Abbau von Kohlendioxid sind, zeigt der 2021 verkündete „Restore Fund“ von Apple. Für diesen ist der Konzern Verpflichtungen in Höhe von bis zu 400 Millionen US-Dollar eingegangen.
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Kritik an „Phantom-Gutschriften“
Das Problem dabei aber ist Verra. Denn nicht nur die Berkeley-Studie, auch die Recherchen der erwähnten Zeitungen haben aufgezeigt, dass durch die NGO zertifizierte Waldprojekte und insbesondere REDD+-Projekte mehr als fragwürdig sind. Guardian und Die Zeit fanden heraus, dass mehr als 90 % ihrer Regenwald-Kompensationsgutschriften wahrscheinlich „Phantom-Gutschriften“ sind und keine echten CO2-Reduzierungen darstellen würden. Untersucht wurden dafür 60 durch Verra verifizierte Waldprojekte.
Seit der Veröffentlichung im Jänner 2023 ist Verra in der Defensive: Die Aussendungen der NGO sind voll mit Reaktionen auf weitere Studien und Ankündigungen, dass die Methoden zur Messung von CO2 durch den „Verified Carbon Standard“ und REDD-Projekte überarbeitet oder erneuert wurden oder werden. Die Kritik an Verra hat sogar dazu beigetragen, dass 2 Weltkonzerne (Nestlé und Shell, sicher keine Lieblinge der Umweltschützer:innen) davon Abstand genommen haben, auf CO2-Gutschriften zu setzen. Sowohl Nestlé als auch Shell setzten früher auf Verra.
Shell und Nestlé pfeifen auf CO2-Gutschriften. Das sagt einiges über CO2-Gutschriften.
Zwei kritische Projekte ausgelaufen
Nun hat Apple ebenfalls reagiert. Aus einer Fußnote seines „Environmental Progress Report 2023“ geht hervor, dass Apple CO2-Kompensationen aus zwei Verra-verifizierten Projekten für seine Unternehmensemissionen für 2022 zurückgezogen hat. Dabei handelt es sich um die beiden folgenden Projekte:
- Alto Mayo Protected Forest (AMPF) in Peru: Das REDD-Projekt in der doppelten Größe von New York City stand im Zentrum der Kritik von Recherchen der erwähnten Zeitungen. Denn Einheimische wurden von den Parkbehörden aus ihren Häusern vertrieben, um die Wälder vor Abholzung zu schützen. Auch der Medienriese Disney hat sich Carbon Credits aus Alto Mayo zur CO2-Kompensation anrechnen lassen. Hier ging es für Apple um 167.000 Tonnen CO2.
- Chyulu Hills REDD+ Project (CHRP) in Kenia: Die REDD+-Projekte stehen besonders in der Kritik (siehe oben). Diese sollen messbare CO2-Reduzierung durch Waldschutzmaßnahmen bringen. Zuletzt hat Verra im Juli kommuniziert, die REDD+-Kriterien zu überarbeiten, die neuen Methoden zur Messung sollen im vierten Quartal 2023 schlagend werden.
Dass CO2-Gutschriften, die bei Umweltschützer:innen generell in der Kritik stehen, keine dauerhafte Lösung sind, ist man sich bei Apple bewusst. Bis 2030 wolle man CO2-neutral werden. „Für die nicht vermeidbaren Emissionen setzen wir als Zwischenlösung hochwertige Kompensationen ein. Wir sind aktiv darum bemüht, Projekte zur Vermeidung von Abholzung und zum CO₂ Abbau zu ermitteln, die höchsten Ansprüchen genügen und eine nachhaltige Wirkung erzielen“, heißt es seitens Apple. Ob man sich ganz von Verra abwendet, ist aktuell unklar. Aus dem Nachhaltigkeitsbericht geht hervor, dass Apple weiter auf Verra-verifizierte Projekte setzt, und zwar unter anderem in China und in Guatemala – ersteres ist ein REDD+-Projekt.
Anmerkung: Apple wollte oder konnte bisher gegenüber Trending Topics keine Stellungnahme zu CO2-Gutschriften durch Verra geben. Fragen, ob man künftig weiter auf Verra setze, wie die Apple Watches konkret „CO2 neutral“ gemacht werden und ob Apple bei CO2-Gutschriften bleibt oder zu anderen Formen wie etwa der Finanzierung von Direct Air Capture (DAC), wie es Microsoft oder Amazon machen, blieben bisher unbeantwortet.
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