Interview

Chef der Wiener Börse: „99,9 Prozent der derzeitigen ICOs werden scheitern“

Wiener-Börse-Chef Christoph Boschan im Gespräch mit Trending-Topics-Redakteurin Sara Grasel. © Trending Topics
Wiener-Börse-Chef Christoph Boschan im Gespräch mit Trending-Topics-Redakteurin Sara Grasel. © Trending Topics
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Noch heuer werden an der Wiener Börse wieder IPOs von kleineren heimischen Unternehmen möglich. Hintergrund ist eine geplante Gesetzesänderung, durch die Inhaberaktien wieder zugelassen werden. Dadurch steht heimischen Unternehmen der sogenannte Dritte Markt wieder offen – das Einstiegssegment der Börse. Erste Interessenten gibt es bereits – darunter etwa auch der Alternativenergieanbieter oekostrom AG.

Der Chef der Wiener Börse, Christoph Boschan, erklärt im Interview mit Trending Topics, für welche Unternehmen ein Börsengang nun interessant wird und was er von ICOs (Initial Coin Offerings) hält.

Trending Topics: In den USA sieht man immer wieder Börsengänge von IT-Startups, in Europa weniger. Warum?

Christoph Boschan: Facebook und Co. waren ja schon bei Mega-Milliardenbewertungen bei ihrem IPO und hatten VC-Finanzierungsrunden hinter sich. Aber auch abseits dieser Riesen-Börsengänge gibt es in den USA eine ganz vitale IPO-Welt. Das hat mit einer anderen Risikoneigung zu tun und einer völlig anders entwickelten Kapitalmarktkultur. Die Mehrheit der Amerikaner sind Aktionäre – bei uns ist das leider eher ein Minderheitenthema. Die Österreicher lassen damit langfristig hohe Renditen auf der Straße liegen.

In Österreich wird heuer der Dritte Markt wieder für heimische Unternehmen geöffnet. Wie funktioniert das Einstiegssegment genau?

Die Börsen-Welt besteht aus verschiedenen Marktsegmenten. Man spricht vom regulierten Markt und vom Dritten Markt. Der regulierte Markt ist nach europäischem Gemeinschaftsrecht zu 99,9 Prozent harmonisiert – die einzelnen Börsen können von diesen Regeln nicht abweichen. Beim Dritten Markt, in Deutschland auch Freiverkehr genannt, hat die Börse wesentlich größere Freiheiten. Dadurch ist der Dritte Markt niederschwelliger. Man braucht eben keine Quartalsberichterstattung, man braucht vielleicht nicht einmal einen Prospekt beim Zugang.

In welchen Fällen?

Die Prospektpflicht bestimmt sich dadurch, ob man ein öffentliches Angebot macht, das heißt für den Aktienerwerb wirbt. Bei mehr als 150 Investoren oder wenn man auf den EU-regulierten Markt will ist auf jeden Fall ein Prospekt fällig. Im Dritten Markt kann man prospektfrei an die Börse. Und auch ein Direct Listing anstreben, wie das auch Spotify gemacht hat, indem es seinen Aktienbestand an die Börse gehoben hat. Der Dritte Markt wird übrigens nicht so heißen – wir werden ihn anders nennen, wenn es so weit ist. Damit wollen wir direkte Listings, die international bei jungen Unternehmen stark im Trend liegen, auch für österreichische Firmen attraktiv machen.

Wann wird es so weit sein?

Wir sind seit Monaten fertig, wir warten nur noch auf den Gesetzgeber. Das dauert vielleicht noch drei Monate, vielleicht sechs Monate – es liegt nicht in meiner Macht. Wir haben sogar schon LOIs interessierter Unternehmen vorliegen (Letters of Intent, Absichtserklärungen, Anm.).

In Österreich war der Dritte Markt jetzt über fünf Jahre lang geschlossen. Das ist tragisch. Das ist wie wenn man die Quelle eines Flusses versiegen lässt. Hunderte Kilometer stromabwärts wird man das erst Jahre später merken. Wenn die Quelle wieder geöffnet wird, dauert es einige Zeit, bis das Wasser dort wieder angekommen ist. Der Dritte Markt war unser Einstiegssegment. Dort sollen sich die kleinen Unternehmen entwickeln, um dann in die höher regulierten Marktsegmente vordringen zu können.

Was bringt Jungunternehmen ein Börsengang am Dritten Markt?

Wir haben konkretes Feedback, der Dritte Markt war ja nur für österreichische Unternehmen geschlossen: Auch wenn man kein Kapital aufnimmt, sondern nur ein Direct Listing macht – also seine Aktien handelbar macht – bringt das Vorteile. Man macht Investoren klar, dass man einen funktionierenden Sekundärmarkt hat. Das ist großartig für Investoren, wenn es eine Institution gibt, die jederzeit die Handelbarkeit der Anteile gewährleistet. Dann ist das investierte Geld nicht gebunden. Der dritte Punkt, der immer wieder betont wird, ist die Visibilität. Der Börsengang schlägt super durch auf das allgemeine Standing im Markt. Auch die Banken finden das super – man bekommt vielleicht leichter einen Kredit. Und wenn man später richtig viel Eigenkapital für Expansionspläne aufnehmen möchte, ist man bereits bestens vorbereitet. Es ist auch ein großer Vorteil bei Lieferanten, Kunden und sogar beim Hiring neuer Mitarbeiter.

Welche Schwierigkeiten bringt ein Börsengang mit sich?

It comes with a price – ich würde das aber nicht als Nachteil bezeichnen. Im Einstiegssegment sind die Anforderungen sehr gering und auf kleinere Unternehmen zugeschnitten. Besonders in den Top-Segmenten ist der Preis ist eine standardisierte und teilweise aufwändige Transparenz. Man muss einen Prospekt schreiben. Da schreibt man sein Geschäftsmodell nieder, die Eigentümerstruktur, die wesentlichen Risiken. Mit Verlaub, wer dazu nicht bereit ist, da hätte ich größte Probleme, als Investor Geld zu geben. Das gleiche gilt für die laufende Berichterstattung. Als Anteilseigner will ich ja wissen, wie es dem Unternehmen geht, wieviel Kohle verbrannt wird, ob die Firma auf Spur ist. Bei der Börse kommt auch noch die Ad-hoc-Publizität dazu. Bei Startups kennt man bestimmt noch bis zur Series X alle seine Investoren persönlich. An der Börse werden die Investoren zunehmend anonymisiert. Die persönliche Beziehung wird ersetzt durch Regelberichterstattung. Durch die Ad-hoc-Berichterstattung muss der Kapitalmarkt über alles informiert werden, die den Kurs beeinflussen können. Professionelle Investor Relations lautet dann das Gebot der Stunde.

Was kann bei oder nach einem Börsengang schiefgehen?

Bei der Ad-hoc-Berichterstattung kann zum Beispiel etwas schiefgehen. Nehmen wir an, die Produktionshalle brennt. Der Vorstand denkt sich, das wird sicher den Kurs beeinflussen und verkauft Anteile. Damit macht man sich in mehrerer Hinsicht strafbar. Der Vorstand hat die Ad-hoc-Pflicht verletzt und Insiderhandel betrieben. Und wahrscheinlich kommt noch eine Marktmanipulation dazu. Das gibt mehrere hohe Strafen. Die meisten Firmen, die nach einem IPO Probleme haben, sind die, die die Kommunikation nicht ernst genug betreiben. Das ist etwas, wo ich mir bei ICOs die größten Sorgen mache.

Inwiefern?

Dort ist die Bereitschaft zu dieser Transparenz und intensiven Kommunikation nicht gegeben. Es sind auch die Wege dafür nicht etabliert und den handelnden Personen fehlt die Erfahrung. 99,9 Prozent der derzeitigen ICOs werden scheitern. Sicher viele davon an genau diesem Problem. Nicht falsch verstehen, ich finde die Technologie hinter ICOs sehr interessant und vielleicht werden in der Zukunft ICOs zu 99,9 Prozent erfolgreich sein.

Was müsste sich bei ICOs ändern?

Wenn sich ein Unternehmen weiteren Geldgebern öffnet und damit das Geschäftsmodell transparent macht, das ist ja eine fantastische Idee. Jetzt ist die Frage, unter welchen Bedingungen das stattfindet. Ich glaube nicht, dass man einen ICO mit einem IPO gleichstellen kann. Noch nicht. Die verbrieften Rechte unterscheiden sich noch sehr. Beim klassischen IPO reden wir von der Bildung von Eigenkapital gegen die Ausgabe von Aktien – im Falle des IBO (Initial Bond Offering, Anm.) sind wir bei der Bildung von Fremdkapital gegen die Ausgabe von Anleihen. Bei ICOs ist die Frage, was man eigentlich verbrieft. Das ist regulatorisch eine große Herausforderung. Wir sehen ein großes Ausweichen in Richtung Gutscheinmodell bei ICOs, dann geht es teilweise in Richtung Genussschein. Aber eine wirkliche Bildung von Eigen- oder Fremdkapital gibt es derzeit nicht.

Die Herausforderung der Stunde ist es nun, ein zukunftsträchtiges Modell für ICOs zu entwickeln. Die klassische Finanzwelt muss sich die Frage stellen, wie man die beiden Welten versöhnen kann. Es wird ja offensichtlich anlagegeneigtes Publikum angesprochen, das sonst auf den klassischen Wegen nicht erreicht wird. Mit den typischen Fragen wird man sich aber in jedem Fall auseinandersetzen müssen: In welchem Umfang und nach welchen Standards informiert ein Unternehmen, wie geht man mit dem Anleger bei der dauerhaften Berichterstattung um, welche Rechte bekommt der Anteilseigner? Diese Weltordnung wird man mit ICOs nicht aushebeln können. Es könnte sein, dass diese neue Welt an dieser Stelle zu ganz alten Antworten kommt.

Wie sollen ICOs konkret reguliert werden?

ICOs sind gewissermaßen streng reguliert – die klassische Kapitalaufnahme wie bei IBO/IPO ist verboten. Auch das ist Regulierung. Die Frage ist eher, wie überträgt man dieses Modell in geordnete Bahnen. Eine extreme Antwort könnte sein, dass für einen börsemäßig organisierten Sekundärhandel nun einmal die Börsenregeln greifen müssen – egal ob IBO, IPO oder ICO. Man kann auch darüber nachdenken, ob man angesichts der besonderen Risikoneigung des neuen Publikums an manchen Stellen lockerere Vorschriften macht.

An welchen Stellen?

Zum Beispiel bei der Erstinformation, beim Prospektrecht oder bei der laufenden Berichterstattung.

Welche Rolle kann oder wird die Wiener Börse bei ICOs spielen?

So wie ICOs derzeit stattfinden – keine. Wir repräsentieren den Teil des entwickelten Kapitalmarktes, bei dem es auch um ganz andere Summen auf ganz anderem Niveau geht. Das weltweite ICO-Volumen wurde alleine durch einen einzigen IPO an der Wiener Börse, den der Bawag, abgebildet. Im Bereich der ICOs sind wir eher im niedrigen einstelligen Millionenbereich diese Summen zählen klassisch zu vorbörslicher Finanzierung. Wir haben international einige große ICOs gesehen in der Größenordnung von hundert Millionen. Die werfen diese Frage natürlich auf: warum dort und warum nicht an der Börse? Mit dieser Frage muss sich die Börsenwelt intensiv beschäftigen.

In welchem Stadium sollte sich ein Jungunternehmen befinden, damit es für einen Schritt an die Börse interessant ist?

Gehen wir es durch: zuerst steht die Seed-Finanzierung, dann kommt Venture Capital, Private Equity oder Private Placements. Dann kommen vielleicht die ersten Börsensegmente. Der Bereich Venture Capital & Private Equity ist natürlich sehr breit. Da gibt es Facebooks mit Bewertungen bis zu 100 Milliarden Dollar, es gibt im regulierten Marktbereich aber auch Börsengänge ab Bewertungen von 60 bis 80 Millionen Dollar. Das ist aber wirklich die unterste Grenze. Im Dritten Markt haben wir Kandidaten mit mindestens 10 Millionen Euro Marktkapitalisierung – meistens aber eher 20 bis 30 Millionen Euro. Das ist das Zugangssegment.

Mit wie vielen Börsengängen rechnen Sie durch die Öffnung des Dritten Marktes?

Immer vorausgesetzt, dass die allgemeine Marktstimmung gut bleibt, rechne ich mit etwa ein bis zwei Hand voll Neuzugängen pro Jahr.

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