Gastbeitrag

„Wir Europäer müssen aufhören zu denken, dass das Gras auf der anderen Seite grüner ist“

Mathias Tagwerker, Mitgründer von ClevioAI.
Mathias Tagwerker, Mitgründer von ClevioAI.
Startup Interviewer: Gib uns dein erstes AI Interview Startup Interviewer: Gib uns dein erstes AI Interview

Mathias Tagwerker ist Mitgründer von CleevioAI. Das Unternehmen mit Büros in Wien, San Francisco, Dubai und Prag setzt KI-Lösungen für Unternehmen um. In diesem Gastbeitrag beschäftigt sich Tagwerker mit dem Status quo von Europa im KI-Zeitalter.

Europa war über Jahrhunderte die Wiege der Innovation und hatte immer eine Vorreiter-Rolle. Von der industriellen Revolution über die Erfindung des Automobils bis hin zur Entwicklung des World Wide Web – europäische Erfinder und Unternehmer prägten den technologischen Fortschritt weltweit. Doch während wir uns auf diesen Lorbeeren ausruhen, wie eindrucksvoll ersichtlich in der Automobilbranche, droht Europa bei der wichtigsten technologischen Revolution unserer Zeit den Anschluss zu verlieren und das obwohl wir beim Thema KI sogar lange Zeit vorne lagen.

Es gibt den weit verbreiteten Spruch: Amerika innoviert, China kopiert und Europa reguliert, doch wenn man sich den Ursprung vieler technologischen Entwicklungen und Innovationen ansieht, dann beginnt die Innovation oft in Europa. Und doch sind es die USA, die es dann schaffen, diese Rohdiamanten in etwas wirklich Wertvolles zu verwandeln.

Viel zu oft liefern wir den Funken für so vieles, doch landen im Endeffekt nur in der zweiten Reihe am Feuer. Genug gejammert, ich möchte heute konkret darauf eingehen, was Europa tun kann bzw. muss, um im KI-Race nicht unterzugehen und vielleicht noch die Chance zu haben, doch noch zurück zu seinen Wurzeln zu finden.

Europas innovative DNA

Die Geschichte Europas ist eine Geschichte der Innovation. Die erste und zweite industrielle Revolution nahmen hier ihren Anfang. Deutsche Ingenieure, französische Wissenschaftler und britische Erfinder schufen die Grundlagen unseres modernen Wohlstands. Noch in den 1980er Jahren war Europa mit einem Anteil von über 25% am globalen BIP eine der führenden Wirtschaftsregionen der Welt. Heute zeichnet sich ein anderes Bild: Europas Anteil am globalen BIP ist auf 17% geschrumpft. Der Produktivitätsvorsprung der USA gegenüber der EU liegt bereits bei 20%. Neue Analysen von Implement Consulting zeigen: Während KI das Potenzial hat, Europas BIP um 1,2 bis 1,4 Billionen Euro in den nächsten zehn Jahren zu steigern, verpassen wir gerade den Anschluss.

Die demographische Entwicklung verschärft die Situation zusätzlich. Das Wiener Institut für Internationale Wirtschaftsvergleiche prognostiziert allein für Österreich einen Verlust von 540.000 Arbeitskräften bis 2027 durch den Renteneintritt der Baby-Boomer während nur ca. die Hälfte davon wird in Form von neuen Berufsanwärtern in den Arbeitsmarkt eintreten – diese Rechnung geht einfach nicht auf. Ähnliche Entwicklungen sehen wir in ganz Europa. Diese Lücke kann nur durch massive Produktivitätssteigerungen kompensiert werden – genau das, was KI ermöglicht.

Lichtblicke in der europäischen KI-Landschaft

Trotz aller Herausforderungen gibt es bereits vielversprechende Entwicklungen. Das französische Startup Mistral AI hat innerhalb kürzester Zeit ein KI-Modell entwickelt, das in einigen Bereichen mit den Großen der Branche mithalten kann – und das bei einem Bruchteil der Kosten. In Deutschland entwickelt sich mit dem KI-Park in Heilbronn eines der größten KI-Forschungszentren Europas. Und Unternehmen wie Aleph Alpha zeigen, dass auch in Europa Spitzeninnovation im KI-Bereich möglich ist.

Die ELLIS-Initiative (European Laboratory for Learning and Intelligent Systems) verbindet bereits heute die besten KI-Forscher Europas in einem Netzwerk von Exzellenzzentren. Das deutsche KI-Modell Flux gehört zu den führenden Bildgenerierungsmodellen weltweit. Diese Erfolge zeigen: Europa hat das Potenzial zur KI-Führerschaft – es muss nur richtig aktiviert werden.

Die Herausforderung ist sicherlich komplex, aber zumindest aus meiner Sicht lösbar. Europa braucht einen ganzheitlichen Ansatz, der mehrere Schlüsselbereiche gleichzeitig adressiert. Basierend auf unzähligen KI-Projekten, die wir umgesetzt haben, sowie meinen Erfahrungen aus zahllosen Gesprächen mit Entscheidungsträgern aus Politik und Wirtschaft, kristallisieren sich fünf zentrale Handlungsfelder heraus.

Eine neue Regulierungsphilosophie

Die aktuelle europäische Regulierungspraxis gleicht dem Versuch, ein Flugzeug während dem Bau eines ersten Prototypen mit einem detaillierten Regelwerk zu steuern. Was wir stattdessen brauchen, ist ein „Innovation First“ Prinzip. Dies bedeutet konkret: Regulierung muss der Innovation folgen, nicht umgekehrt. Wir müssen es den genialen Ideenbringern in Europa so einfach wie möglich machen und nicht möglichst viele Steine in den Weg legen. Meiner Meinung nach müsste der AI Act hier dringend überarbeitet werden.

Stellen Sie sich vor, ein junges KI-Startup entwickelt eine vielversprechende Lösung für die Früherkennung von Krankheiten. Nach aktuellem Stand müsste dieses Unternehmen monatelang warten und tausende Seiten Regulierung verstehen, bevor es auch nur einen Prototypen testen darf. Ein neuer Ansatz könnte so aussehen: Startups und Mittelständler erhalten zunächst einen geschützten Experimentierraum – eine Regulierungs-Sandbox. Erst wenn ihre Lösungen eine bestimmte Marktrelevanz erreichen, greifen strengere Regeln.

Positive Beispiele gibt es bereits: Im Finanzmarkt hat Österreich mit dem „Regulatory Sandbox“-Programm gezeigt, wie innovative Regulierung aussehen kann. Startups können hier neue Innovationen und Fintech-Lösungen in einem kontrollierten Umfeld testen, während sie gleichzeitig von der Expertise der Behörden profitieren, warum das ganze also nicht auch für KI nutzen?

Bildung als Fundament der KI-Revolution

Die KI-Revolution wird nicht in Rechenzentren gewonnen, sondern in den Köpfen der Menschen. Europa braucht eine massive Bildungsoffensive, die weit über vereinzelte Programmierkurse hinausgeht. Wir müssen KI-Verständnis als fundamentale Kulturtechnik begreifen – ähnlich wie Lesen und Schreiben. Während ich diese Zeilen schreibe ist mir eindeutig bewusst, wie unmöglich alleine dieser Schritt erscheint, vor allem wenn man sich ansieht, wie lange alleine Österreich für weitaus geringere Änderungen im Bildungssystem gebraucht hat. Es braucht hier meiner Meinung nach einen radikalen Ansatz der es Europa ermöglicht hier mit Speed voran zu kommen.

Das bedeutet aus meiner Sicht eine tiefgreifende Transformation unseres Bildungssystems: Schulen müssen KI-Grundlagen bereits ab der Sekundarstufe vermitteln, nicht als theoretisches Konzept, sondern durch praktische Anwendung. Universitäten sollten KI-Module in alle Studiengänge integrieren – vom Maschinenbau bis zur Medizin.

Estland macht vor, wie digitale Bildung funktionieren kann: Bereits seit 2012 lernen Schüler dort Programmierung ab der ersten Klasse. Die Technical University of Munich hat mit ihrer „School of Computation, Information and Technology“ einen vielversprechenden Ansatz entwickelt, der technische Expertise mit praktischer Anwendung verbindet.

Praktische Umsetzung und Quick Wins

Was ich in meiner täglichen Arbeit mit Unternehmen und Organisationen merke, ist, dass viele Entscheider mit dem Thema KI überfordert sind. Was hier fehlt sind ganz klare Use Cases die nachweislich einen Win für das jeweilige Unternehmen darstellen sowie eine nachvollziehbare Roadmap. Die theoretische Diskussion über KI muss also endlich der praktischen Umsetzung weichen. Wir brauchen einen pragmatischen Ansatz, der sich auf schnelle, sichtbare Erfolge konzentriert. Dies bedeutet vor allem, Best Practices und erfolgreiche Use Cases aktiv zu kommunizieren und deren Implementierung zu fördern.

Statt monatelanger Strategiediskussionen sollten Unternehmen ermutigt werden, in kurzen Sprints von 4-8 Wochen erste KI-Prototypen zu entwickeln und zu testen. Der Fokus muss dabei auf den „Low Hanging Fruits“ liegen – KI-Anwendungen, die mit überschaubarem Aufwand einen messbaren Mehrwert schaffen. Ein Beispiel: Die automatisierte Verarbeitung von Standarddokumenten kann binnen weniger Wochen implementiert werden und spart sofort messbar Zeit und Ressourcen.

Um diesen Prozess zu beschleunigen, braucht es in den Unternehmen dedizierte KI-Taskforces oder AI Labs mit direkter Anbindung an den Vorstand bzw. die Geschäftsführung. Diese können schnell und unbürokratisch Entscheidungen treffen, ohne in langwierigen Abstimmungsprozessen stecken zu bleiben, denn während dieser Wartezeiten ziehen disruptive Mitbewerber gnadenlos an ihnen vorbei und sichern sich massive Marktanteile.

Parallel dazu muss die öffentliche Hand ihre Förderstrukturen vereinfachen. Statt eines undurchsichtigen Dschungels verschiedener Programme brauchen wir einen klaren, einfach zugänglichen Förderrahmen. Dieser sollte sich an bewährten Use Cases orientieren und Unternehmen eine eindeutige Roadmap für die KI-Implementierung bieten.

Das Bewusstsein für die strategische Bedeutung von KI muss dabei auf allen Ebenen geschärft werden – von der Führungsetage bis zum einzelnen Mitarbeiter. Nur wenn alle Beteiligten verstehen, dass KI keine optionale Zukunftstechnologie mehr ist, sondern eine existenzielle Notwendigkeit für die Wettbewerbsfähigkeit, werden wir den notwendigen Speed und die passende Dynamik entwickeln.

Der Deutsche KI-Innovationswettbewerb und das französische Programm „AI for Humanity“ haben bereits gezeigt, wie staatliche Förderung Innovation katalysieren kann. In Österreich hat die FFG mit ihrer „AI Mission Austria“ einen pragmatischen Ansatz entwickelt, der besonders KMUs den Einstieg in KI-Technologien erleichtert. Trotzdem gibt es hier noch viel zu tun.

Eine zukunftsfähige Infrastruktur

Europa braucht eine eigene, leistungsfähige KI-Infrastruktur. Dabei geht es nicht um eine technische Spielerei, sondern eine Frage der strategischen Autonomie. Die Abhängigkeit von amerikanischen oder asiatischen Cloud-Diensten macht uns abhängig, verwundbar und bremst die Innovationskraft.

Mit GAIA-X hat Europa bereits den Grundstein für eine souveräne digitale Infrastruktur gelegt. Das europäische Quantum-Computing-Programm OpenSuperQ zeigt zudem, dass wir auch bei anderen Zukunftstechnologien vorne mitspielen können. Diese Initiativen gilt es nun gezielt für KI-Anwendungen zu nutzen und auszubauen.

Kulturwandel als Schlüssel zum Erfolg

Der vielleicht wichtigste – und schwierigste – Aspekt ist der notwendige Kulturwandel. Europa muss seine Risikoaversion überwinden und eine positive Innovationskultur entwickeln. Dies bedeutet nicht, blind jedem Trend hinterherzulaufen, sondern kalkulierte Risiken einzugehen und aus Fehlern zu lernen.

Erfolgsgeschichten wie die des niederländischen Startups Adyen, das zu einem der wertvollsten Fintech-Unternehmen Europas aufgestiegen ist, zeigen, dass europäische Unternehmen durchaus zu globalem Erfolg fähig sind. Der Aufbau des KI-Ökosystems in München-Garching demonstriert, wie akademische Exzellenz und unternehmerischer Spirit zusammenfinden können.

Wir müssen als Europäer aufhören ständig zu denken, dass das Gras auf der anderen Seite grüner ist und das wirkliche Innovation nur noch in Amerika oder in Asien stattfindet. Innovation gehört nirgendwo so sehr zur DNA eines Kontinents als in Europa und genau zu dieser Kultur müssen wir wieder zurück finden.

Eine besondere europäische Chance

Was oft als Europas größte Schwäche gesehen wird – unsere Vielfalt und komplexen Abstimmungsprozesse – könnte sich im KI-Zeitalter als entscheidender Vorteil erweisen. Denn KI-Systeme profitieren von diversen Perspektiven und unterschiedlichen Datenquellen. Das multilinguale, multikulturelle Fundament Europas könnte uns helfen, KI-Systeme zu entwickeln, die wirklich global einsetzbar und skalierbar sind.

Europa braucht jetzt eine schlagkräftige KI-Taskforce mit echten Entscheidungsbefugnissen, nicht als weitere Beratungsinstanz. Ein „European AI Quick-Start Program“ könnte Unternehmen den Einstieg in KI-Technologien erleichtern sowie mehr Sicherheit und klaren Ausblick auf Chancen geben. Die ersten europäischen AI-Labs müssen eröffnet werden und ihre Arbeit aufnehmen. Die Schaffung von Regulierungs-Sandboxen sollten umgehend geplant und umgesetzt werden.

Meiner Meinung nach ist vollkommen klar, dass die Gewinner der Zukunft diejenigen sein werden, die das Potential von KI für sich nutzen, vollkommen egal in welchem Bereich. Die neuen Technologien, die in den kommenden Jahren entstehen, werden einen unvergleichlichen Impact im Bereich der Produktivität haben. Daher sollte aus meiner Sicher der Aufbau eines vollständigen europäischen KI-Ökosystems – von der Grundlagenforschung bis zur praktischen Anwendung, von der Ausbildung bis zur Marktreife – eine wirklich hohe Priorität haben.

Fazit

Die gute Nachricht ist: Es ist noch nicht zu spät. Europa verfügt über alle notwendigen Voraussetzungen – hervorragende Universitäten, innovative Unternehmen und hochqualifizierte Arbeitskräfte. Was wir jetzt brauchen, ist der politische und auch unternehmerische Wille zur Veränderung und die Bereitschaft, mutige Entscheidungen zu treffen. Wir brauchen Visionäre und Pioniere, die den Mut haben, heute schon an morgen zu denken und keine Menschen, die sich nur damit beschäftigen, die Vergangenheit bestmöglich zu verwalten.

Die Frage ist nicht mehr, ob wir handeln müssen, sondern wie schnell wir es tun. Denn eines ist klar: Die KI-Revolution wartet nicht auf Europa. Es liegt an uns, ob wir wieder Innovationsführer werden oder zum digitalen Museum der Welt verkommen.

Der Zeitpunkt zum Handeln ist jetzt. Lassen Sie uns gemeinsam Europas digitale Zukunft gestalten.

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