Das „Alles wird digitalisiert“-Narrativ ist tot
Als nach den Lockdowns der Jahre 2020 und 2021 plötzlich der große Geldregen über die Welt der Startups, Scale-ups und Unicorns kam, da war es überall zu hören: Politiker:innen, Unternehmensberater:innen, Gründer:innen und solche, die es werden wollten, tönten überall: „COVID ist der Turbobooster für die digitale Transformation“. Bildung, Shopping, Entertainment, Arbeitswelt, Events, ja das gesamte Geldwesen – vor nichts mehr wird die Digitalisierung stoppen.
War ja irgendwie auch klar: Nachdem die (wohlhabende westliche) Welt die Lockdowns vor Displays zu Hause verbracht hatte und das alles irgendwie auch ganz gut funktionierte, war doch logisch: Alles wird noch mehr und schneller in die digitale Welt wandern. Mark Zuckerbergs großangelegte Metaverse-Pläne, die bisher satte 47 Milliarden (!) Dollar Verlust brachten, sind ein Kind dieser Zeit – 2021 wurde aus Facebook Meta.
Als mich dann aber kürzlich ein österreichischer VC nach dem Namen unserer Druckerei (die unsere ziemlich tollen Trending Topics-Magazine produziert) fragte, dann war das die Bestätigung einer These, die sich schon länger in meinem Kopf formte: Das Digitalisierungs-Narrativ ist tot, zumindest vorläufig. Niemand mehr, weder in Presseaussendungen noch auf Bühnen, trägt mehr Schlagworte wie „Digitalisierungsbeschleunigung“ oder „Turbo der digitalen Transformation“ vor sich her. Dafür hat sich die Welt durch Ukrainekrieg, Zinswende, Energiekrise und Nahost-Konflikt zu stark verändert.
Man sieht es im Großen wie im Kleinen, dass die Digitalisierung keinen Turbo mehr hat. Als CEO Tobias Lübke Mitte 2022 verkünden musste, dass er 1.000 Stellen beim börsennotierten E-Commerce-Riesen Shopify kürzen werde, postete er auch folgende Grafik über die Wachstumsrate von E-Commerce in den USA – sie zeigt einen Peak 2021, um danach wieder zu fallen.
Offline wird zum neuen Online
Dass die Digitalisierungs-Lawine nicht alles hinwegfegen wird, sondern erst einmal gestoppt wurde, sieht man vielerorts, im Großen wie im Kleinen. Einer Studie von EY Österreich zufolge etwa ist die Zahl der Unternehmen, für die digitale Technologien für das eigene Geschäftsmodell eine große Rolle spielen, von 2022 auf 2023 von 67 auf 63 Prozent zurück gefallen. Ein Beispiel, wo der Online-Shop, obwohl er am Beginn des Unternehmens stand, keine Rolle mehr spielt, ist markta. Der einst „digitale Bauernladen“ ist nicht mehr digital – es gibt ihn nur mehr in seiner Offline-Variante, als Ladengeschäft in Wien (mehr dazu hier). Parallel dazu kann man den vor gar nicht allzu langer Zeit gehypten Quick-Commerce-Services Flink, Gorillas und Getir beim Aussterben zusehen. In weiser Voraussicht titelten wir im Trending Topics-Magazin 2023 bereits zum wichtigsten Retail-Trend: „Back to Offline.“
Digital-Events bloß Pausenfüller und keine Revolution
Aber nicht nur im Handel sieht man es besonders deutlich, dass die Digitalisierung am Rückzug ist, auch im Event-Bereich ist es so. Da wurde während der COVID-Pandemie Das britische Startup Hopin für digitale Events zum 6,5-Milliarden-Dollar-Unicorn gemacht, Ende 2023 war Hopin nichts mehr wert – und die Menschen längst zurück auf physischen Events. Ende 2022 eröffnete in Tulln übrigens ein Haus der Digitalisierung – als physischer Ort für die Vernetzung von Personen und Unternehmen mit digitalen Interessen.
In Europa gibt es derweil Bestrebungen der Autoindustrie, wieder mehr echte Knöpfe in Wägen zu verbauen und nicht alle Funktionen in digitale Displays zu verbannen. Manchmal ist ein griffiger Knopf einfach besser als ein virtueller Button einer Software. Noch ein Beispiel gefällig? GoStudent, die digitale Nachhilfe-Plattform, kaufte sich Ende 2022 den Lernanbieter Studienkreis, der Nachhilfe für Schüler:innen an 900 Standorten anbietet. Lernen ist also nicht bloß digital, sondern braucht eine physische Komponente.
Dass die Digitalisierung ein (vorläufiges?) Plateau erreicht hat, bekommt aktuell die VC-Branche zu spüren, die ja in den letzten Jahren an vorderster Front vom Digitalisierungs-Storytelling gelebt hat. Wie berichtet, haben Venture Capitalists im ersten Quartal 2024 so wenig Geld wie wie noch nie zuvor raisen können – ihre Geldgeber (Pensionsfonds, Versicherungen, Family Offices, usw.) stehen am Bremspedal. Nach enormen Überbewertungen von Crypto-, Fintech- oder Software-Unicorns und massiven Pleiten (FTX et al.) gibt es aktuell kaum jemanden, der die nächsten Milliarden in neue Tech-Fonds schieben will.
„Ein großes globales Experiment“
„Es war ein großes globales Experiment. Es wurde viel Kapital von Public in Private re-allokiert, um globale Digitalgewinne zu erzeugen. Dieses Experiment ist aus heutiger Sicht nicht aufgegangen. Es haben viele der Startups, die so finanziert worden sind, nicht geschafft, dieses enorme Kapital in nachhaltigen, globalen Wettbewerbsvorteil zu übersetzen“, sagte etwa Oliver Holle, CEO von Speedinvest, Ende 2023 über die Hype-Jahre 2021 und 2022, in denen Summen wie nie zuvor in Digitalunternehmen gepumpt wurden. Jetzt hofft die Branche weiterhin auf ein IPO-Fenster, damit die vielen Unicorns an die Börse können, und ihre Geldgeber die gekauften Shares liquidieren können. Nur, das IPO-Fenster öffnet sich weiter nicht wirklich, und viele Investoren hocken weiter auf Digital-Startup-Anteilen, die sie kaum verkaufen können.
Profitiert vom Digitalisierungs-Boom hat derweil vor allem eine Kategorie an Unternehmen: Big Tech. Amazon, Linkedin, Meta, Google, Apple, TikTok – sie haben die Plattformen, über die jedes Jahr hunderttausende neue Startups und Millionen weitere Unternehmen versuchen, ihre neuen digitalen Services und Apps an die Konsument:innen zu bringen. Die „Magnificent 7“ (Alphabet, Amazon, Apple, Meta, Microsoft, Nvidia und Tesla) sind es, die 2023 massiv profitiert haben, während in Österreich, Deutschland und vielen weiteren Ländern das Startup-Sterben losging, weil die Finanzierungsebene zur Wüste wurde.
Digitalisierung funktioniert halt nicht für alle.