Die 50 Prozent: Die FemTech-Bewegung und ihre Gründerinnen
Viel zu lang wurden Produkte und Services, welche eigentlich geschlechtsneutral sind, doch vor allem für Männer konzipiert – mit nachteiligen Folgen für Frauen. Startups wollen das ändern – allen voran eine neue FemTech- Bewegung und ihre Gründerinnen.
Was würden Sie mit einer Geschäftsführung tun, die wissentlich auf 50 Prozent der Kundschaft, auf 50 Prozent der Talente, auf 50 Prozent des Marktes verzichtet? Wahrscheinlich feuern.
Trotzdem ist es auch 2022 oft so, dass viele Unternehmen auf eine der größten Zielgruppen der Welt, nämlich Frauen, nicht schauen. Das fängt bei Startups an und setzt sich in Aufsichtsräten fort: Nur 18 Prozent der Startup-Founder, 9 Prozent der Geschäftsführer:innen, 27,8 Prozent der Aufsichtsratsposten und 7,9 Prozent der Vorstandsmitglieder sind heute weiblich. Dazu kommt ein Gender Pay Gap, also die Einkommensdifferenz in Österreich zwischen Mann und Frau, der bei 18,9 Prozent liegt (Vergleich der Brutto-Stundenlöhne). Und schließlich die Produktwelt selbst: die „Pink Tax“ für teure Frauen-Produkte, sexistische Software und Medikamente, die oft nur an Männern getestet werden, sind lediglich einige Beispiele.
Gerade die Startup-Welt arbeitet intensiv daran, das alles zu ändern. In Österreich haben sich die beiden Startups breathe ilo und SteadySense, beides Finalisten der #glaubandich-Challenge, auf sogenanntes „FemTech“ spezialisiert. Und nicht nur das: Bei beiden Jungunternehmen stehen federführend Frauen an der Spitze und treiben die Startups und ihre Produkte aus Österreich hinaus in den globalen Markt.
Viel zu lange stiefmütterlich behandelt
„Der weibliche Körper und die speziellen Befindlichkeiten waren sehr lange ein Tabuthema. Der Zyklus der Frau und die damit einhergehenden Unterschiede zum männlichen Körper wurden sehr lange gänzlich aus der Gesellschaft verdrängt. Das betrifft 50 % der Weltbevölkerung und viel zu lange wurde die Technik und Gesundheit von Frauen recht stiefmütterlich behandelt“, sagt Lisa Krapinger, Co-CEO bei breathe ilo. Das Startup hat einen Fruchtbarkeits-Tracker für die Familienplanung entworfen, der die Atemluft der Frau analysiert und anhand des CO2-Gehalts die fruchtbaren Tage bestimmen kann – also am Ende Auskunft gibt, an welchen Tagen Paare ungeschützten Sex zum Kinderkriegen haben sollten und wann lieber nicht, wenn sie das nicht wollen. Krapinger sieht breathe ilo auch als einen Beitrag, die Welt für die Zielgruppe Frau besser zu machen. „Auch heute ist es leider noch so, dass ich, wenn ich sehr offen über Periode und FemTech-Produkte spreche, in fragende und beschämte Gesichter schaue. Durch diese fehlende Aufklärung und Stigmatisierung der Themen kamen auch wenige Leute auf die Idee, hier Abhilfe und Veränderung zu schaffen. Ich bin sehr froh, dass wir durch feministische Bewegungen nun einen Schritt weiter sind.“
In eine ähnliche Kerbe schlägt SteadySense aus Graz. Dort ist Renee Wagner, die zuvor Plug and Play Austria als Geschäftsführerin leitete, 2022 als Co-Founder eingestiegen, um vor allem in Amerika die femSense-Produktlinie von SteadySense voranzutreiben. Das smarte Sensorpflaster misst die Körpertemperatur der Frau rund um die Uhr und kann so zuverlässig den Eisprung erkennen. In der App sieht die Nutzerin genau, wann sie ihre fruchtbaren Tage hat. So wird die Temperaturmethode, die schon über einhundert Jahre verwendet wird, ins 21.Jahrhundert gebracht.
„FemTech konzentriert sich auf Technologie für 50 % der Gesellschaft, nämlich Frauen“, sagt Wagner. „Unser Produkt kann alles von der ersten bis zur letzten Periode der Frau abdecken, sei es Zyklus-Tracken, Kinderwunsch und bald auch non-hormonelle Verhütung. Wir können mindestens den gleichen Markt abdecken wie die hormonelle Antibabypille und das ohne die Nebenwirkungen, die die Pille hervorruft. Es gibt genug medizinische Studien, die uns zeigen, wie schädlich die hormonelle Methode ist.“
Der Markt für FemTech, wie jene von breathe ilo und SteadySense, ist riesig. Je nachdem, welche Studie man heranzieht, wird speziell für Frauen entwickelten Technologien bis 2025 ein Markt von 40 bis 50 Milliarden Dollar zugerechnet. Und, wie Wagner anmerkt, umfasst alleine der Markt für Verhütungsmittel etwa 22 Milliarden US-Dollar pro Jahr. Oder noch größer gedacht: Laut Krapinger gehen heute nur drei Prozent der Investitionen in Digital Health in die Sparte FemTech – und Digital Health ist hunderte Milliarden Dollar schwer. Das bedeutet enorme Wachstumsmöglichkeiten für FemTech. Denn eigentlich könnte der Markt ja hunderte Milliarden Dollar schwer sein, wenn 50:50 in FemTech und in MaleTech investiert werden würde.
Let’s go USA
Es ist also ein so genannter No-Brainer, dieses Marktsegment mit neuen Technologien anzugehen. Für die beiden österreichischen Startups breathe ilo und SteadySense bedeutet das auch, dass sie aus dem kleinen Land in größere Märkte, allen voran die USA, gehen müssen. „In Amerika gibt es viele Meinungsbildner im medizinischen Bereich, die auf der internationalen Bühne als Vorreiter dienen. Es ist definitiv ein homogener Markt, der einfacher zu erschließen ist, da großflächig die gleiche Sprache, gleiche Influencer, gleiche Medienkanäle diese Fläche abdecken“, sagt Wagner. „Zu guter Letzt wissen wir, dass nicht ganz zehn Prozent der sexuell aktiven Frauen im US-Markt die Pille verwenden. Was ist mit dem Rest? Hier sehen wir große Empfänglichkeit für alternative Methoden. „Auch breathe ilo drängt in den US-Markt und hat 2022 begonnen, den Marktstart in Übersee zu planen. „Das Potential des US-Marktes ist sehr groß“, sagt Krapinger. „Konkret sprechen wir gerade mit drei der global führenden Female-Health-Brands und haben vor, mit einem starken Partner in den Markt zu gehen. Zusätzlich machen wir natürlich Markttests in sehr urbanen Gegenden, um die Zielgruppe vor Ort besser zu verstehen.“
Und dann gibt es neben Markt und Produkt noch eine Parallele zwischen den beiden Startups: Der neue Fokus auf Software. Beide Jungfirmen sind mit Hardware (dem Atemtestgerät bzw. dem Sensorpflaster) gestartet, fokussieren jetzt aber verstärkt auf ihre Apps. Krapinger: „Der Shift in Richtung Software ist sehr stark von unserer Community gekommen. Wir haben uns jahrelang auf die Hardware fokussiert. Nun wissen unsere Userinnen immer, in welcher Zyklusphase sie sind, doch wollen auch wissen, wie sie das in den Alltag integrieren können und so zu einem balancierten, produktiveren und vor allem erfüllenderen Lifestyle kommen. Das können wir durch die Software bieten.“ Auch Wagner sieht Software als Weg, das „volle Potenzial von Hardware auszuschöpfen“.
Sie müssen sich nur trauen
Die beiden Managerinnen gehören, wie eingangs erwähnt, nach wie vor zu einer Minderheit in Österreich: den weiblichen Gründern. „Sehr ausschlaggebend dafür ist, dass die Rahmenbedingungen für viele Frauen nicht passen. Die meisten Menschen haben die Ideen zur Gründung nach dem Studium plus ein paar Jahren Arbeitserfahrung, und bei Frauen fällt hier oft genau die Familienplanung hinein“, sagt Krapinger. „Hier passen sowohl die gesellschaftlichen Ansprüche, als auch die politischen Rahmenbedingungen noch nicht gut, damit eine Unternehmensgründung Platz hat. Ich habe selbst aus der tiefen Überzeugung gegründet, dass ich so am besten etwas bewegen kann. Mir ist es wichtig in meiner Arbeit, die ja tatsächlich sehr viel meiner Lebenszeit einnimmt, etwas mit einem starken Impact mache.“ Ebenfalls ein Faktor, der ins Gewicht fällt: Es gibt nur wenige Investor:innen, und die wären ja prädestiniert dafür, in Startup-Gründerinnen zu investieren. Stattdessen dominieren Männer die Branche – und männliche Investoren neigen nach wie vor dazu, mehr und öfter in männliche Gründer zu investieren. Krapinger: „Meine Vermutung ist, dass die großen Exits und daraus resultierenden freien Talente fehlen, die wiederum gründen. Ich bin allerdings sehr optimistisch, dass einige meiner Kolleginnen mit ihren vielversprechenden Lösungen in naher Zukunft größere Runden raisen und baldige Exits herbeiführen werden.“
FemTech wie von breathe ilo oder SteadySense könnte einen Beitrag dazu leisten, dass mehr Frauen in die Gründerszene kommen. Beispiel Wagner: „Ich bin mit 100%-iger Überzeugung eingestiegen, da ich nicht nur das Bedürfnis nach dem Produkt gesehen habe, sondern selbst seit 18 Jahren auf NFP (Natural Family Planning, Anm.) vertraue. Ich habe meine zwei Wunschkinder genau zum geplanten Zeitpunkt bekommen und kann bezeugen, dass diese Methode sehr wohl genauso leicht anzuwenden ist“, sagt sie. Karriere und Kinder, das passt für sie unter einen Hut. „Für Frauen gibt es am Markt neuerdings viel Unterstützung, um zu gründen, daher müssten sie sich nur trauen.“
Übrigens sollten sich auch Männer dringend mehr Frauen in der Startup-Branche wünschen. Denn Studien aus den USA zeigen, dass von Frauen gegründete Unternehmen insgesamt höhere Umsätze generieren als die von Männern. Dementsprechend befinden sich Investor:innen verstärkt auf der Suche nach diversen Gründer-Teams – einfach, weil sie besser wirtschaften als rein männliche Teams.
Fotos: David Visnjic
Diese Story stammt aus dem Gründer:innen-Guide 2022. Der ist hier kostenlos als Download abrufbar.