Analyse

Die Angst vor dem großen Startup-Sterben

Am Ertrinken. © nikko macaspac auf Unsplash
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„Insolvenz oder Investor: Mein Startup vor dem Ende. Aktuell bleiben uns noch circa 30 Tage, um die Ocha Ocha GmbH vor der Insolvenz zu retten. Nach 5 Jahren Durchhalten stehen wir doch vor dem Abgrund. Kannst du uns helfen? Ich bin bereit ALLES zu geben, Hauptsache unsere Vision überlebt, sogar meine kompletten Gesellschafter-Anteile und Geschäftsführer-Posten.“

Es sind Botschaften wie diese, die derzeit einmal mehr, einmal weniger öffentlich verbreitet werden. Der deutsche Gründer Christopher Gogolin, der mit Ocha-Ocha von Augsburg aus die erste zuckerfreie Getränkemarke Europas aufbauen wollte, greift zum Äußersten – und macht den Sterbeprozess seiner Jungfirma mit einem dramatischen Hilferuf öffentlich. 30 Tage würden noch bleiben, dann wäre Ende Gelände (aka Runway), dann müsste man in die Insolvenz. Energiekrise und Inflation hätten Margen verkleinert und das Wachstum gedrosselt, kurzfristig rechnet man mit einem Minus von 40.000 Euro (bei 350.000 Euro Umsatz 2023); 2,5 Mio. Euro bräuchte man, um das Getränke-Startup langfristig erfolgreich zu machen. Der große Retter hat sich noch nicht gemeldet, immerhin wünscht die Linkedin-Community alles Gute und schickt Listen mit Business Angels, die vielleicht doch einspringen könnten.

Diesmal gibt es keine Rettungspakete

So wie Gogolin geht es derzeit vielen anderen Gründer:innen im deutschsprachigen Raum. Bereits in den letzten Monaten hat man gesehen, dass immer mehr Startups entweder zusperren müssen, oder versuchen, im Zuge der Konsolidierung der Märkte noch einen Käufer zu finden. Die Startup-Nachrichten schauen komplett anders aus als 2020, 2021 oder 2022. 2020 war auch schon einmal vom großen Startup-Sterben die Rede gewesen, als die Corona-Krise über die Welt fegte. Damals aber gab es von der Politik die großen „Whatever it takes“-Ansagen, die sich in Österreich durch den COVID-Startup-Hilfsfonds ausdrückten, über den mehr als 200 Jungfirmen Zuschüsse bekamen. In Deutschland gab es gar einen „Startup-Booster als Corona-Unterstützung“ im Umfang von 2 Milliarden Euro.

Dann folgte das Rekordjahr 2021 mit einer Schwemme an Unicorns und Scale-up-Finanzierungen, und dann schließlich 2022 mit der Zinswende, dem Ukrainekrieg und der anschließenden Energiekrise. Der Markt für Startup-Finanzierungen ist wieder auf ein „normales“ Niveau (sprich: Vorkrisen-Niveau) zurückgegangen, im ersten Halbjahr 2023 gab es – je nach europäischem Markt – zwischen 50 und 60 Prozent weniger als im ersten Halbjahr 2022. Parallel dazu spricht das WIFO in Österreich von einer „Vertiefung der Rezession bei steigenden Zinsen und hoher Inflation“; in Deutschland wird die Wirtschaft der Schätzung der EU-Kommission zufolge in diesem Jahr um 0,4 Prozent schrumpfen; die Aussichten für 2024 sind trüb.

Die Inflation in den für viele Startups wichtigen Kernmärkten Österreich (August: 7,5 Prozent) und Deutschland (August: +6,1 Prozent) ist im EU-Vergleich überdurchschnittlich hoch. Umsatzseitig bedeutet das: Die hohe Inflation drückt die Kaufkraft sowohl bei Konsument:innen (B2C) als auch die Investitionsfreude in neue Geschäftsfelder bei Corporates (B2B).

Wird es noch heftiger?

In dieser Lage sollen dann Gründer:innen, die immer weiter Richtung Ende Runway schlittern, Geld raisen – sprich, jemanden finden, der in ein noch verlustreiches Business investiert, in der Erwartung, dass bald (2024?) die Profitabilität erreicht wird. Die erste Welle an Startup-Insolvenzen hat man im Sommer 2023 gesehen, als auch bekanntere Namen in der Szene wie goUrban, Trality, App Radar, Secureo, Kilobaser, Aisemo oder Brüsli trotz Millioneninvestments die Pleite ereilte – und einige wenige wie Domonda, FoodNotify oder Robo Wunderkind die Sanierung schafften.

Doch war das bereits die große Pleitewelle oder wird es noch heftiger? Manche Investor:innen in der Branche, mit denen Trending Topics gesprochen hat, meinen: ja, definitiv. Wer keine guten KPIs hat und nicht zeigen kann, dass der Break-Even bald erreicht ist (oder am besten schon erreicht wurde), für den sieht es düster aus. Große Wachstums-Storys, die hohe Marketing-, Entwicklungs- und Personalkosten verursachen, will heute kaum jemand finanzieren. Ausnahmen bestätigen die Regel: Im CleanTech-Bereich etwa, wo etwa Solar- und Akkutechnologien im Aufwind sind, gibt es noch einige Bewegung.

Erste Wellen an Fire Sales fluten durch deutsche und französische Startup-Sektoren

Insolvenzen steigen auch bei Jungfirmen

Wie stellt sich die Situation in Österreich aktuell dar? Generell sind Firmeninsolvenzen 2023 deutlich gestiegen. Im ersten Halbjahr 2023 gab es einen Anstieg um 16 Prozent gegenüber der Vorjahresperiode. Auch in den Monaten Juli und August gab es deutliche Peaks nach oben. Hier die Entwicklung der Insolvenzen anhand von Zahlen des KSV1870:

In diesen Zahlen sind natürlich große Pleiten wie Kika/Leiner, Forstinger oder Bertsch Energy enthalten, die nichts über das Geschehen bei Jungfirmen aussagen. Deutlich bessere Insights bekommt man, wenn man das Insolvenzgeschehen bei Jungfirmen (max. 4 Jahre alt) ansieht. Hier zeigt sich, dass die Zahlen generell steigen, mit deutlichen Peaks im Juli und August:

Wie sich die Sache hier weiter entwickelt, ist unklar, allerdings gibt es wenig Anzeichen dafür, dass sich die Lage beruhigen wird. Vielmehr bekommt man von Eingeweihten in der Branche eher die Beschreibung, dass das große Startup-Sterben erst bevorsteht und dass einige bekannte Namen der Szene aktuell schwer zu kämpfen hätten und dringend Finanzierung brauchen – die eben schwierig zu bekommen ist. International, etwa in den Märkten Frankreich und Deutschland, gibt es bereits Berichte von Wellen so genannter Fire Sales – also Notverkäufen von Startups an Mitbewerber bzw. größere Unternehmen zu einem Bruchteil früherer Bewertungen . Das ist ebenfalls ein Zeichen dafür, das gerade mittelgroßen Startups, die auf der Suche nach Series A-Finanzierungen von mehreren Millionen sind, abverkaufen müssen, um zu retten, was noch zu retten ist. Wie erfolgreich solche Übernahmen am Ende sind, muss sich erst zeigen: Laut EY-M&A-Barometer erreichen 70 und 90 Prozent der Fusionen und Übernahmen ihre Ziele nicht oder schaffen keinen nachhaltigen Wert.

Zu berücksichtigen ist auch immer folgender Faktor: In Österreich warten auf Unternehmen im Juni/Juli bzw. im November/Dezember immer die doppelten Gehälter. Startups haben meist 80, 90 Prozent Personalkosten, weswegen die bevorstehende Auszahlung dieser doppelten Gehälter immer wie ein Damoklesschwert über den Köpfen der CFOs schwebt. Rund um diese Monate ist der Kampf gegen den Ende des Runways besonders intensiv – dementsprechend ist ein harter Startup-Winter zu erwarten.

Es wird auch viele Lichtblicke geben

Einen Abgesang auf die komplette Startup-Szene sollte man deswegen aber nicht anstimmen. Denn es gibt bereits einige Marktgerüchte über größere Finanzierungsrunden für sowohl Startups als auch Scale-ups, die sehr überraschen werden. Während einige der Unternehmen ihre lange in Arbeit befindlichen Deals endlich schließen können, gibt es andere, die Investor:innen-Absagen aus dem Inland ziemlich daneben aussehen lassen werden. Alles in allem sollten diese Ausreißer aber letztendlich nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Finanzierungslage am Startup- und Scale-up-Markt weiter schwer ist – und mit neuen Unicorns ist nicht zu rechnen. Die sind und bleiben ein Phänomen des Ausnahmejahres 2021.

Auch ist festzuhalten: In den ersten sechs Monaten 2023 wurde laut EY eine Gesamtsumme von 356 Millionen Euro an Startup-Investments festgestellt. Das ist ein Rückgang um 60 Prozent im Vergleich zum Vorjahr, aber deutlich über Vorkrisen-Niveau. Oder wie es ein Investor gegenüber Trending Topics beschrieben hat: Die Lage am Startup-Markt nach den Ausnahme-Jahren 2021 und 2022 normalisiert sich, es kommt die notwendige Korrektur.

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