Analyse

Die Renaissance der Greißlereien: Comeback der Nahversorger – ja oder nein?

© David Visnjic / Trending Topics
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In keinem anderen Land in Europa gibt es so viele Supermärkte pro ­Einwohner:in wie in ­Österreich. Das ist einerseits bequem für die ­Konsument:innen, macht es andererseits aber kleineren Anbietern schwieriger, Fuß zu fassen. Dennoch gibt es vielerorts ein Comeback des Gemeinde-Greißlers – oft allerdings in einem neuen Gewand.

Dieser Artikel stammt aus unserem neuen Magazin „Retail Startup Report 2023“. Das 50-seitige Magazin steht hier kostenlos zum Download parat.

Inmitten der idyllischen Szenerie aus zwitschernden Amseln, den sanften Umrissen der Berge und dem Muhen der Kühe auf der grünen Weide, fällt der Blick unweigerlich auf ein unübersehbares Zeichen des modernen Lebens, zumindest hierzulande – die Leuchtanzeige einer heimischen ­Einzelhandelskette. Sie kann gewissermaßen als Symbol der Veränderungen betrachtet werden, die in allen Ecken Österreichs stattgefunden haben: Einst wurden an Orten wie diesen kleine ­Lebensmittelgeschäfte von Greißler:innen geführt, die Wurst, Brot und Milch an die Bevölkerung verkauft haben. Doch in den letzten Jahrzehnten haben die meisten Greißlereien der Modernisierung Platz ma­chen müssen. Im neuen Gewand gibt es nun einzelne Comebacks – aber reicht das für eine flächendeckende Renaissance der Greißlereien?

Von 850 auf nur 300 Greißlereien in Wien

In der Bundeshauptstadt sind die kleinen Lebensmittelgeschäfte ebenfalls zu einem Großteil aus dem Stadtbild verschwunden. Dieser Trend lässt sich mit den folgenden Zahlen belegen: So gab es laut Angaben der Wirtschaftskammer im Jahr 1983 noch 850 Greißlereien in Wien. Bis Anfang 2007 ist die Anzahl auf 300 gesunken.

Österreich zählt aktuell höchste Supermarktdichte in der EU

Bundesweit gibt es aktuell immerhin 2.500 Greißler:innen mit ins­gesamt 4.100 Geschäften. Darüber hinaus hat Österreich mit 60 Supermärkten pro 100.000 Einwohner:innen die höchste Supermarktdichte in der EU, wie vom Wirtschaftsforschungsinstitut festgestellt wurde. Zum Vergleich: In Deutschland beträgt dieser Wert nur 45,5. Das freut die heimischen Konsument:innen, immerhin findet sich hierzulande fast überall ein Lebensmittelhändler in Gehweite. Die Dichte der Nahversorger war auch zu den Zeiten der Greißlereien (nach dem zweiten Welt­krieg) hoch, der wohl größte Unterschied zu früher liegt dementsprechend in der Diversifizierung, also in der Zahl der Marktteilnehmer.

Warum Nachhaltigkeit alte Trends ablösen kann

Trotzdem scheinen sich langsam aber sicher wieder neue Konsumtrends zu etablieren: Weniger Fokus auf Internationalität und mehr auf Regionalität, weniger Tempo, dafür aber Nachhaltigkeit. Dr. Josef Sawetz ist Konsumexperte und beschäftigt sich seit Jahrzehnten mit Konsum- und Marketingpsychologie sowie kognitiven Neurowissenschaften. Auf die Frage, wie sich das Konsumverhalten im Laufe der Zeit verändert hat, betont er zunächst, dass es schwierig sei, alle Länder über einen Kamm zu scheren, da hier unterschiedliche Wirtschaftslagen und Konsumgewohnheiten eine Rolle spielen würden. Zudem gebe es Unterschiede im Konsumverhalten innerhalb der Länder, die durch verschiedene Bevölkerungsgruppen und unterschiedliche Generationen, Bildungs- und Einkommenslevels geprägt werden.

Zwei Verhaltensweisen

Dennoch ergänzt Sawetz: „Es lässt sich grundsätzlich sagen, dass es zwei wesentliche Komponenten des Konsumverhaltens gibt: Einerseits die Möglichkeit und andererseits die Motivation, das verfügbare Einkommen auch entsprechend einzusetzen.“ Die Motivation beim Einkaufen hänge demnach immer davon ab, was einem wichtig ist und welche Qualität man in Anspruch nehmen möchte. Die sich ständig verändernden Werteprofile würden automatisch Auswirkungen auf den Konsumbereich haben.

Aktuell werde das Thema Nachhaltigkeit ein „immer wichtigerer Faktor im Werteprofil“ der Menschen. Themen wie Nachhaltigkeit werden bei jüngeren Personen oft anders gewichtet als bei älteren Generationen und beeinflussen damit die darunter liegenden Einstellungen entsprechend stärker. Sawetz betont aber, dass sich im Laufe der Zeit immer Motivlagen und Werteprofile verändern und verändert haben, da ältere Generationen aus dem Konsumzyklus ausscheiden und von jüngeren Generationen abgelöst werden. Diese Tatsache zeige sich kulturübergreifend und sei vor allem im Konsumbereich beobachtbar.

Werte und Selbstbild

„Bei den Greißler:innen im Geschäft erwartet man Bio, Regionalität und Nachhaltigkeit durch kurze Lieferwege. Dazu kommt eine viel persönlichere Beratung bzw. ein anderes Vertrauenslevel. Hersteller und Händler verschmelzen oftmals und somit auch die Trennung zwischen Industrie und Handel. Das Sicherheitsbedürfnis und das Vertrauen ist hier am höchsten und damit auch die empfundene Qualität“, sagt der Konsumexperte zum möglichen Comeback der Greißlereien.

Die Mixnerei im 14. Bezirk

Sawetz betont, wie eng ein Einkauf und das Selbstbild bzw. die eigene Identität miteinander verbunden sein können. Personen, die bewusst die Greißlerei und nicht Amazon Fresh aufsuchen, würden dies mit großer Wahrscheinlichkeit vor allem deswegen machen, weil sie „im Einklang mit ihren Werten handeln möchten“. Als wichtigen Nebeneffekt beschreibt er den Einfluss, den das Konsumverhalten auf das Selbstbild haben kann: „Wer seinen Werten entsprechend handelt, hat auch ein besseres Bild von sich selbst und geht selbstbewusster durchs Leben. Natürlich muss man sich das aber erst leisten können.“ So viel zur Theorie, doch wie sieht das alles in der Praxis aus? Wie lautet die Einschätzung von Personen, die selbst Tag für Tag an der Verkaufstheke stehen? Bereits seit 2016 gibt es die Mixnerei, die von Marion Mixner betrieben wird.

Ursprünglich wollte sie sich als Buchhändlerin selbstständig machen, als aber der einzige Nahversorger in ihrem Viertel zugemacht hatte, übernahm sie kurzerhand die alte Greißlerei. In ihrem kleinen Laden bietet sie ein breites Sortiment an alltäglichen Lebensmitteln wie Brot, Mehlspeisen, Wurst und Käse an. Besonders wichtig sei es ihr, eng mit regionalen Bäckereien und Bäuer:innen zusammenzuarbeiten. Dadurch könne sie eine Vielzahl an heimischen Spezialitäten sowie Bio-Produkten anbieten, was für sie von Anfang an ein Schwerpunkt sein sollte. Mixner sagt dazu: „Meine Stammkund:innen legen auf jeden Fall viel Wert auf Bioprodukte und Regionalität und verstehen, dass Qualität auch ihren Preis hat.“

In zwei Tagen bezahlen? Kein Problem!

Vorteile sieht sie grundsätzlich viele: „Meine Kund:innen vertrauen mir und es hängt auch viel von diesem Vertrauen ab.“ So werden die Produkte der Mixnerei „persönlich auf Herz und Nieren geprüft“, wie sie verspricht. Mixner meint: „Dieser persönliche Austausch ist gerade heutzutage, wo alles so unpersönlich ist, sehr wichtig. Es wird unterschätzt, wie sehr Menschen andere Menschen brauchen, die sich für sie interessieren. Das zeigt sich auch immer, wenn eine:r meiner Kund:innen krank wird und die Kinder statt ihnen in der Mixnerei einkaufen kommen. Bei Stammkund:innen weiß ich, was sie wann einkaufen und kann das den Kindern einfach mitgeben. Es kommt auch vor, dass Leute ihre Geldbörse vergessen. Dann schreibe ich mir alles auf und bekomme mein Geld in zwei Tagen.“

Kein Überangebot wie bei Netflix

„Das Überangebot in Supermärkten kann oft sehr anstrengend sein“, meint die Geschäftsinhaberin. Sie fährt fort: „Kund:innnen haben mittlerweile 20 Müsli-Optionen! Das ist Zeit, die man verschwendet und manchmal hat man auch einfach gar keine Lust dazu. Aber man ist dann trotzdem gezwungen, alle durchzuschauen. Das ist so schwierig, wie bei Netflix einen Film auszusuchen.“ Marion Mixner betrachtet einen Einkauf bei Greißlereien, die mit einer kleineren Auswahl auskommen müssen, demnach als Zeitersparnis. Und sie berichtet von einem zusätzlichen Vorteil des persönlichen Einkaufserlebnisses in einem kleinen Geschäft: Dem nostalgischen Charme einer Greißlerei. „Ich bemühe mich stets, Süßigkeiten aus meiner Kindheit zu finden. Für mich, aber auch für die Kund:innen. Dann gibt es auch so viele, die sich bedanken und freuen. Das ist dann natürlich besonders nett!“

„Werbung schalten ist leider viel zu teuer für mich“

Für Greißler:innen in Österreich läuft natürlich, trotz des aktuellen „grünen Zeitgeistes“, nicht alles rund. So spricht Mixner Aspekte wie eine schlechte Lage, den Mangel an Werbung, höhere Preise als im Supermarkt und die aktuelle Teuerung an. Als absoluten Nachteil empfindet sie die Tatsache, dass es für Greißlereien unfassbar schwierig sei, genug Kund:innen auf sich bzw. das Geschäft aufmerksam zu machen, vor allem dann, wenn es sich nicht in einer belebten Gegend befindet und sagt: „Werbung schalten ist leider viel zu teuer für mich. Greißler:innen sind auf zufriedene Kund:innen angewiesen, die das Geschäft weiterempfehlen und das Bewusstsein stärken, dass es wichtig ist, lokales Wirtschaften zu unterstützen.“

Auch sonst würden vor allem die steigenden Kosten große Schwierigkeiten verursachen. In ihrer Greißlerei müsse sie höhere Preise verlangen als große Supermarktketten, da sie nicht den gleichen Einkaufspreis bekomme. Sie erklärt: „Viele Menschen verstehen das nicht und denken, dass sie für dasselbe Produkt im kleinen Geschäft so viel wie im Supermarkt zahlen sollten.“ Mixner findet es schwierig, diese Tatsache zu vermitteln, da insbesondere neue Kund:innen oft nur einen Blick auf die Preise werfen und sofort gehen.

Aktuelle Krisenzeiten erschweren Lage der Greißlereien

Aktuell bereitet der Greißlerin, genau wie vielen anderen kleinen Lebensmittelhändlern, die Teuerung große Kopfschmerzen: „So viele Kund:innen sind schon weggefallen oder kommen viel seltener.“ Mixner betont hierbei, dass ihr die Arbeit zwar Spaß mache, aber sie auch davon leben müsse und das derzeit immer schwieriger werde. Trotzdem strebt sie an, die Preise so stabil wie möglich zu halten, obwohl es natürlich auch steigende Ausgaben gibt, wie beispielsweise für den Strom. Sie betont: „Ich bemühe mich, meine gute Laune aufrechtzuerhalten. Mehr kann ich nicht tun.“

Comeback oder nicht?

„Hier ist auch die Bundesregierung gefordert, endlich gegenzusteuern und die Teuerung an der Wurzel zu bekämpfen – bei den hohen Energiepreisen“, ergänzt Rainer Will, Geschäftsführer des Handelsverbandes. „Bereits 600 Gemeinden in Österreich haben keinen eigenen Nahversorger mehr. Wenn die Politik die heimischen Händler weiterhin im Regen stehen lässt, werden es bis Jahresende 1.000 Gemeinden sein“, so der Sprecher des österreichischen Handels.

Wohl auch darum äußert sie sich Marion Brixner skeptisch gegenüber der Wiederbelebung der Greißlereien und sagt: „Obwohl ich mir das wünsche, finde ich es ehrlich gesagt schwer vorstellbar, vor allem angesichts der aktuellen Mietpreise. Es mag zwar einfach sein, eine Greißlerei zu eröffnen und Nachhaltigkeit sowie Regionalität zu fördern, aber es dauert Jahre, um erfolgreich zu sein. Ich kenne nur wenige Beispiele, und selbst die kämpfen mit Schwierigkeiten und müssen schließen, was auf die hohen Energiekosten zurückzuführen ist. Ich glaube schon, dass mehr, vor allem junge Leute, gerne kommen würden, insbesondere im aktuellen ‚grünen Zeitalter‘, gehen dann aber doch in den Supermarkt, weil der günstiger ist.“

„Der Trend zur Nachhaltigkeit ist … nachhaltig!“

Josef Sawetz erkennt genau hier ein Phänomen, das im Konsumbereich häufig auftritt, vor allem bei jungen Personen – und erklärt: „Viele möchten ihrem Ideal gerecht werden, umweltbewusst zu leben und somit auch zu konsumieren. Junge Menschen haben aber gleichzeitig nicht die höchste Kaufkraft. Sie können nicht immer ihren Werten entsprechend handeln und sind dazu gezwungen, sparsam mit dem nicht so üppig vorhandenen Geld umzugehen.“ Dennoch sieht er die Wiedergeburt der Greißler in einem optimistischen Licht, spricht dabei allerdings von einem „gebremsten Comeback“.

Er sagt: „Der Bremseffekt kommt durch die Teuerung, in der wir uns jetzt befinden, und das zieht einige Bevölkerungskreise raus aus dem Comeback. Die können da nicht mitmachen, obwohl sie vielleicht gerne würden. Aber man kann trotzdem von einem Comeback sprechen, weil der Wertewandel absolut in diese Richtung geht und auch weitergehen wird. Und diejenigen, die über genug Haushaltseinkommen verfügen, also von der Teuerung nicht so massiv in ihren Entscheidungen eingeschränkt werden, die ziehen in diesem Comeback weiter mit. Wie gesagt, es wird zwar gebremst, aber der Trend zur Nachhaltigkeit ist – erlauben Sie mir dieses Wortspiel – nachhaltig!“

Neue nachhaltige Konzepte zur Stärkung der Nahversorgung

Passend zu dieser Prognose erfreuen sich aktuell auch Container-Nahversorger wie KastlGreissler wachsender Beliebtheit. Das Konzept dahinter? Lebensmittel aus der eigenen Region, gesammelt an einem Ort. Diese Selbstbedienungsläden bieten eine bequeme und Einkaufsmöglichkeit für Kund:nnen, die Wert auf Frische, Qualität und vor allem Regionalität legen. Mit etwa 450 Produkten, von denen mindestens 50 von regionalen Herstellern in einem Umkreis von 40 Kilometern stammen, bietet der Container-Nahversorger eine vielfältige Auswahl an Brot, Teigwaren, Obst, Gemüse oder Fleisch an. Obwohl die Regale durch die Betreiber:innen aufgefüllt werden, ist kein Personal vor Ort erforderlich. Ausreichend Sicherheit wird durch Kamerasysteme gewährleistet.

Die Container gibt es in insgesamt 22 Ortschaften in Österreich. Im Burgenland ist KastlGreissler in acht Ortschaften vertreten, ebenso wie in Niederösterreich. Zwei Standorte gibt es in Osttirol und vier in Kärnten. Sie sollen es für Kund:innen einfacher machen, regionale und nachhaltige Lebensmittel-Shops nutzen zu können. Neben dem KastlGreissler gibt es noch weitere ähnliche Initiativen, beispielsweise die Ackerbox in Villach oder die UNIBoxen von Unimarkt. Das alles zeigt deutlich auf, dass die regionalen Nahversorger durchaus auf dem Vormarsch sind. Von einer Renaissance zu sprechen dürfte aber verfrüht sein: Das Marktumfeld erscheint dafür zu schwierig, die spezifischen Eigenheiten des heimischen Marktes spielen kleinen Anbietern nicht unbedingt in die Karten. Demgegenüber steht ein klarer Trend zu nachhaltigen Lebensweisen bei den jüngeren Generationen und zeitgemäße Adaptionen à la KastlGreissler beziehungsweise das Herzblut, das in die Mixnerei und andere Greißler fließt. Bleibt zu hoffen, dass der Trend zur Nachhaltigkeit nachhaltig bleibt.

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