Die Technik der Taliban: Social-Media als Verfolgungswerkzeug
Vor eineinhalb Wochen ist Afghanistans Hauptstadt Kabul gefallen. Während schwer bewaffnete Taliban die Stadtgrenze überquerten, stürmten Journalist:innen, Menschenrechtsaktivist:innen und Mitarbeiter:innen der westlichen Streitkräfte zum Flughafen. Ausländer:innen verließen fluchtartig das Land. Nach dem weitgehenden Abzug der USA ist Kabul den Islamisten hilflos ausgeliefert. Sprach Präsident Ghani frühmorgens noch davon, dass sich die afghanische Armee nicht unterkriegen lassen würde, sah die Situation wenige Stunden später schon ganz anders aus: Die Taliban nahmen die Stadt kampflos ein. Während Präsident Ghani insgeheim das Land verlassen hatte, lassen die neuen islamistischen Herrscher afghanische Zivilist:innen nun nicht mehr so einfach ausreisen.
Seither fürchten viele liberale Afghan:innen um ihr Leben: Wer für die deutsche Bundeswehr übersetzte oder die amerikanische Armee bekochte; wer über die Gräueltaten der Taliban berichtete oder bisher als Frau ohne Kopftuch außer Haus ging, hat bereits das Land verlassen oder ist untergetaucht. Frauen und Mädchen dürfen nicht mehr ohne männliche Begleiter hinaus. Ehemalige Unterstützer:innen des Westens werden hingerichtet. Angst begleitet die Afghan:innen in ihrem neuen Alltag wie ein Schatten.
So auch einige Freund:innen des deutschen Journalisten Hasnain Kazim. Der ehemalige Spiegel-Türkei-Korrespondent wollte sich angesichts der gefährlichen Situation vergewissern, ob seine Bekannten sicher sind. Als er in den vergangenen Tagen aber nach ihren Facebook-, Instagram- oder Twitterprofilen suchte, schienen sie wie vom Erdboden verschluckt. „Ich habe festgestellt, dass ich viele Leute über öffentlich einsehbare Social Media Kanäle nicht mehr erreiche“, erzählt Kazim. „Als ich sie dann auf WhatsApp angerufen habe, haben sie mir erzählt, dass sie dort nicht mehr präsent sein können. Ihre Angst: Die Taliban könnten online Beweismittel sammeln, dass sie mit dem Westen zusammenarbeiten.“ Und darauf steht die Todesstrafe.
Digitale Spurensuche
Die Taliban haben im Vergleich zu ihrer Schreckensherrschaft Ende der 1990er und Anfang der 2000er heute einen entscheidenden Vorteil: Digitale Fußspuren. Immerhin haben sich die wenigsten Afghan:innen vor der Machtübernahme groß Gedanken darüber gemacht, welche persönlichen Informationen sie im Internet veröffentlichen. Bereitwillig wurden Selfies mit US-Soldaten oder Bilder mit deutschen Hilfskräften geteilt. Niemand ahnte, dass diese Inhalte den Betroffenen wenige Monate später zum Verhängnis werden könnten, erklärt Natasha Lindstaedt, Professorin für Internationale Beziehungen mit dem Nahen Osten an der University of Essex: „Autoritäre Regime wie die Taliban sind besonders gut in der Verfolgung von Gegner:innen. Afghan:innen, die online Inhalte gepostet haben, die den Wertvorstellungen der Taliban widersprechen, sind in Gefahr.“ Die Taliban würden Social Media also dazu nutzen, um herauszufinden, wer sie unterstützt und wer nicht.
Die Loyalität von Zivilist:innen überprüfen die Kämpfer auch mithilfe von digitalen Fallen: Die Taliban nutzen gefakte WhatsApp- oder Telegram-Gruppen, um Verräter:innen aufzuspüren, warnt Kazim: „Es gibt einige WhatsApp-Gruppen, in denen die Flucht von Menschen organisiert wird, die mit dem Westen zusammengearbeitet haben. Die Taliban könnten sich da natürlich einschleichen oder gar selbst solche Gruppen gründen.“ Alle, die sich in den Gruppen zu Wort melden, dürften damit auf dem Radar der Taliban erscheinen. Anstatt des ersehnten Flugs ins Ausland erwarten Flüchtende an online ausgemachten Treffpunkten dann bewaffnete Islamisten. Und die Hinrichtung.
Rechtliche Willkür
„Grundsätzlich erlauben die Taliban die Nutzung von Social Media. Was sie nicht erlauben sind manche Inhalte“, erklärt Kazim. Werden etwa Fotos von unverschleierten Frauen online angesehen, wäre das ein Verstoß gegen die Scharia. Auch das Verbreiten von Meinungen, die nicht mit dem Kurs der Taliban übereinstimmen, ist verboten. „Die Religiosität wird von den Taliban so zurecht gebogen, wie es ihnen passt. Sie nutzen Religion, um an die Macht zu kommen und ihre Macht zu stärken“, sagt Kazim. Als Konsequenzen für talibanskeptische Postings droht körperliche Misshandlung bis zur Todesstrafe.
Die aufkeimende Protestbewegung kann das dennoch nicht ersticken. Auch Aktivist:innen nutzen Social Media, um Protestaktionen zu koordinieren und sich zu informieren, erklärt Kazim: „Social Media ist die Informationsquelle Nummer eins für die gefährdete Bevölkerung.“ Als etwa Präsident Ghani am Sonntag flüchtete, verbreitete sich diese Information online lange, bevor seine Flucht öffentlich bestätigt wurde. Dabei sei es aber nicht einfach, wahre Aussagen herauszufiltern, sagt Lindstaedt: „Ähnlich wie China, Russland oder der Iran nutzen die Taliban jene Strategie, Social Media permanent mit Falschnachrichten zu überfluten.“
Von wegen Amnestie
Auch gegenüber des Westens fahren die Taliban eine klare Kommunikationsstrategie, erklärt Darren Linvill, Professor für Social Media und Fakenews an der Clemson University. Er geht davon aus, dass die Taliban professionelle Socialmedia-Marketingagenturen im Ausland beschäftigen: „Es ist klar, dass diese Accounts nicht von afghanischen Warlords betrieben werden. Ihre Social-Media-Manger:innen dürften sich in den Golfstaaten oder Pakistan befinden und im Auftrag der Taliban Fakenews und PR-Botschaften verbreiten.“ Dabei dürfte es sich um dieselben Akteur:innen handeln, die etwa im Präsidentschaftswahlkampf 2016 von Russland engagiert wurden, um Falschinformationen über die Präsidentschaftskandidatin Hillary Clinton zu verbreiten. „Sie unterstützen dabei nicht die Werte der Taliban. Desinformation ist einfach ein boomendes Geschäft, das auch von den Taliban genutzt wird.“
Die klare Botschaft der bezahlten Taliban auf Twitter und Co.: Die afghanische Bevölkerung sei in Sicherheit und müsse nicht um ihr Leben fürchten. Lindstaedt erkennt in diesen Versprechungen PR-Märchen: „Die Taliban setzen westliche Marketingstrategien zu ihrem Nutzen ein. Mithilfe von gezielt gestreuten Narrativen über Sicherheit und Frieden, wollen sie ihrem Regime in den Augen des Westens Legitimität verleihen. Dabei steht außer Frage, dass diese Behauptungen nicht der Wahrheit entsprechen.“ Auch Kazim warnt davor, die Professionalität der Taliban zu unterschätzen. Hinter dem betont staatsmännischem Auftritt stecke Kalkül: „Wir haben grundsätzlich eine falsche Vorstellung von den Taliban: Das ist keine wilde Horde, die unkoordiniert Dinge in die Luft sprengt. Das machen sie zwar auch, aber da steckt noch mehr dahinter. Sie sind straff und hierarchisch organisiert.“ So gäbe es klare Zuständigkeit und auch professionelle Pressesprecher.
Reaktion der Social Media Riesen
Google, Facebook und Co. sei das Problem der Instrumentalisierung ihrer Plattformen durch die Taliban bewusst, wird in Presseaussendungen betont. Auf die Anfrage von Trending Topics hat Google dennoch nicht reagiert. Auch Twitter lässt Warlords gewähren. Facebook hingegen stuft die Taliban als Terrororganisation ein und blockiert ihren Auftritt auf Instagram, Facebook und WhatsApp: „Das heißt, wir löschen Accounts, die von den Taliban oder im Interesse der Taliban betrieben werden und verhindern dadurch Lob, Unterstützung und Repräsentation der Organisation.“ Lokale Expert:innen würden dem Facebook-Team dabei helfen, potenzielle Talibanaccounts zu identifizieren. Gerade auf WhatsApp sei das durch die End-to-End-Verschlüsselung aber kaum möglich, fürchtet Kazim: „Bei WhatsApp gibt es den Umstand, dass die Nachrichten vom Sender bis zum Empfänger unlesbar sind. Facebook kennt also den Inhalt der Nachrichten nicht und weiß damit auch nicht, ob jemand ein Taliban ist. Nur wenn es direkte Hinweise gibt, kann jemand gesperrt werden.“
Angesprochen auf die digitale Spurensucher der Taliban, antwortet Facebook, dass afghanische Nutzer:innen einfach ihre Profile sperren könnten. Pressesprecher Johannes Prüller: „Freundeslisten, Fotos und Beiträge können so von Fremden nicht mehr eingesehen werden. Auf Instagram bekommen Nutzer:innen zudem Benachrichtigungen mit Tipps, wie sie ihre Konten schützen können.“ Auch wenn die Profile künftig nicht mehr angezeigt werden, löst das nicht ein anderes wesentliches Problem der Digitalsphäre: Das Internet vergisst nicht. Mithilfe von Wayback-Machines können die Taliban nach wie vor nach alten Screenshots von gesperrten Profilen suchen. Facebook möchte dazu keinen Kommentar abgeben. Für die Bekannten von Journalist Kazim bedeutet das jedenfalls eines: Sie schweben in Lebensgefahr.