Digital Fortress Europe: Festung der Vorschriften
US Innovates.
China Replicates.
EU Regulates.
Das ist die Sichtweise vieler Beobachter:innen, die zugespitzt die Stärken der drei Machtblöcke USA, China und Europa beschreiben wollen. Und tatsächlich: Egal ob man die GDPs, die Zahl der Unicorns, die größten Unternehmen, die Patentanmeldungen, die Forschungsausgaben der Unternehmen, die Fundings für Zukunftstechnologien oder die Investitionen für neue Energien vergleicht, den Kürzeren zieht meistens die EU. Das Einzige, was die EU noch kann, so scheint es, ist, sich neue Regeln auszudenken, um die anderen Machtblöcke und deren Exporte noch irgendwie im Griff zu halten.
Als „Freiluftmuseum und Altersheim“ hat mir neoom-CFO Philipp Lobnig Europa mal zynisch skizziert – ein Kontinent der Überalterung, immerhin noch Urlaubsdestination für Amerikaner:innen und Asiat:innen, um sich die alten Metropolen London, Paris, Berlin und Rom anschauen zu können. Aber sonst? In den Top 10 der wertvollsten Unternehmen der Welt ist kein europäisches, in den Top 20 ist es gerade mal eines (Novo Nordisk aus Dänemark), in den Top 50 sind es immerhin 6 (Roche, Hermes, Nestle, LVMH, ASML und eben Novo Nordisk). Die USA haben 32.
Die Träume von 2021 für Unicorn-Europa sind geplatzt
Mit eigenen Unternehmen sich der drückenden Markt-Power der Big-Tech-Riesen Apple, Microsoft, Google, Amazon, Nvidia oder Meta entgegen zu stellen, das war der feuchte Traum einiger, die an unterschiedlichsten Orten Europas auch mal „Silicon Roundabouts/Alleys/Villages/Cities/usw“ und Unicorn-Fabriken heraufbeschworen, doch von all dem spürt man wenig bis gar nichts. Der größte IPO des Jahres in Europa wird wohl der des chinesischen Online-Händlers Shein in London sein. Kontinentaleuropa spielt auch bei Börsengängen keine Rolle.
2021, als ein durch die COVID-Nachwehen künstlich erzeugter Geldregen („Digitalisierungs-Turbo“ plus Helikopter-Geld der westlichen Regierungen) noch europäische Unicorns der Reihe nach aus dem Boden schießen hat lassen, konnte man noch von einer Renaissance Europas 2.0 träumen. Heute weiß man: Der Traum vom eigenständigen Europa mit eigenen Digital-Champions hat sich nicht erfüllt. Macrons ambitionierte Ziele, bis 2030 zehn 100-Milliarden-Euro-Tech-Companies in Europa zu schaffen (formuliert mitten im Unicorn-Hype 2021), sind aus heutiger Sicht unrealistisch.
4 neue Regulierungen für alles Digitale
Auf was hat man sich also am Alten Kontinent verlegt? Auf einen Skill, dem die EU ganz wunderbar kann: Regulierung. Verordnungen und Richtlinien der Reihe nach versuchen, die Marktmacht vor allem der US-Tech-Giganten einzuschränken. 2024 kann man als Wendejahr der Regulierung sehen, denn dieses Jahr kommen zu den bisher zwei großen Hebeln gegen Big Tech
- Wettbewerbsrecht
- Datenschutzrecht (GDPR, DSGVO)
gleich vier weitere EU-Verordnungen bzw. -Richtlinien dazu, die stark eingreifen, wie bisher Digital-Business gemacht wurde:
- Digital Markets Act (DMA)
- Digital Services Act (DSA)
- AI Act
- MiCA (Markets in Crypto Assets)
Die ersten Effekte davon sieht man aktuell. Apple traut sich nicht, im Herbst seine neuen AI-Funktionen unter dem Sammelbegriff „Apple Intelligence“ in der EU auf den Markt zu bringen; davor hat sich Meta Platforms dagegen entschieden, Meta AI für europäische User von Facebook, Instagram und WhatsApp zu aktivieren und sich stattdessen mal auf Indien fokussiert; bei vielen neuen AI-Modellen wie GPT-4 von OpenAI wird der AI Act für eingeschränkte Nutzungsmöglichkeiten sorgen; und der Stablecoin Tether (USDT), essenziell fürs Krypto-Trading, muss darum bangen, in der EU verboten zu werden.
Die EU ist kein Neuling am Feld der Regulierung. In den vergangenen 20 Jahren wurden Microsoft, Meta, Amazon, Apple und vor allem Google mit satten Strafen eingedeckt, entweder wegen Verstößen gegen das Wettbewerbsrecht oder gegen die Datenschutzgrundverordnung (DSGVO, GDPR). Hier eine Übersicht über die größten Strafen gegen Big Tech bisher:
Big Tech | Strafe in € | Verstoß | Jahr | Behörde |
4,3 Mrd. | Missbrauch von Android | 2018 | EU-Kommission | |
2,4 Mrd. | Bevorzugung von Google Shopping | 2021 | EU-Kommission | |
Apple | 1,8 Mrd. | Beschränkung von Musik-Streaming | 2024 | EU-Kommission |
1,5 Mrd. | Missbrauch bei Online Advertising | 2019 | EU-Kommission | |
Meta | 1,2 Mrd. | Verstoß gegen GDPR | 2023 | irische Datenschutzbehörde |
Microsoft | 899 Mio. | ungerechtfertigte Lizenzgebühren | 2008 | EU-Kommission |
Amazon | 746 Mio. | Verstoß gegen GDPR | 2021 | Datenschutzbehörde in Luxemburg |
Microsoft | 561 Mio. | Einschränkung der Browser-Wahl bei Windows | 2013 | EU-Kommission |
Meta | 405 Mio. | Verstoß gegen GDPR bei Instagram | 2022 | irische Datenschutzbehörde |
Meta | 265 Mio. | Verstoß gegen GDPR bei Facebook | 2022 | irische Datenschutzbehörde |
Meta | 225 Mio. | Verstoß gegen GDPR bei WhatsApp | 2021 | irische Datenschutzbehörde |
Mit DMA, DSA und AI Act kündigt sich bereits an, dass es in der Tonart weitergehen wird – als nächstes, so wird kolportiert, werden Apple und Microsoft mit satten (Milliarden?)-Strafen eingedeckt werden.
Von der Frenemy-Phase zur Enemy-Phase
Bisher war es so, dass Google, Meta und Co diese Strafen weggesteckt haben. Beziehungsweise: Selbst diese Milliardenstrafen haben dem Wachstum von Big Tech nicht einmal eine Delle bescheren können. Apple, Microsoft, Alphabet, Amazon und Meta sind heute mehr wert als jemals zuvor, machen mehr Umsatz und Gewinn als jemals zuvor – eine Milliardenstrafe fällt da gar nicht so dramatisch auf. Die Frage, die sich künftig stellt: Wie hoch müssen die Strafen überhaupt ausfallen, damit Big Tech sie wirklich spüren?
Insbesondere der DMA wird da eine neue Qualität hineinbringen. So können nicht nur Bußgelder in Höhe von zehn Prozent des weltweiten Jahresumsatzes fällig werden (bei Apple wären das theoretisch für 2023 satte 38 Mrd. Dollar), es könnte sogar zu einer Zerschlagung der Konzerne kommen. In der grauen Theorie könnte entschieden werden, dass Google YouTube, Meta Instagram oder Apple der App Store oder Apple Music abspalten müssen. Dass der DMA gefürchtet ist, zeigt bereits der Umstand, dass die Big-Tech-Konzerne bestimmte Services vorerst gar nicht in der EU launchen werden.
Wer kann ohne App Store, Social Network und Search wachsen?
Diese Entwicklung ist doppelt nachteilig für Europa: Zum einen bedeuten nicht gelaunchte Services, dass sie auch nicht bestraft werden können (für all jene, die meinen, dass die EU-Kommission wenigstens Bußgelder herausholen kann), zum anderen, dass Konsument:innen wie Unternehmen einfach weniger Dienste zur Verfügung stehen im globalen Wettbewerb. Es gibt kaum digitale Businesses, die ohne die App Stores, Cloud-Services, Video-Plattformen, Messaging-Dienste, Suchmaschinen und Social Networks der Gatekeeper, wie sie der DMA definiert, wachsen können.
Bisher waren Google, Apple und Co noch gewillt, Regulierung und Strafen in Kauf zu nehmen, um am europäischen Markt teilnehmen zu können. Man war „Frenemy“, also Freund und Feind zugleich. Doch so manche Beobachter:innen meinen nun, dass die Halb-Freund-Halb-Feind-Phase nun bald vorbei sei, und Google und Co zu echten Enemies“ werden könnten. „Da der Anteil der EU an der Weltwirtschaft weiter schrumpft, wird es für Unternehmen immer einfacher, sie und ihre Vorschriften zu vermeiden“, kommentiert etwa der Pariser VC Michael Jackson. Anstatt sich mit den zahlreichen Vorschriften abzumühen, könnte der Effekt sein, dass Apple und Co einfach gar nicht in der EU launchen und sich auf andere Märkte fokussieren.
Noch sind es nur einige Beispiele, aber wenn sich der Trend auswächst, dann wird das zu einem enormen Problem. Es entstünde ein „Digital Fortress Europe“, das hinter Mauern aus Vorschriften, Regeln und Verboten immer mehr mit Technologien arbeitet, die global gesehen nicht mehr „State of the Art“ sind – und dem es an eigener Kraft mangelt, selbst entsprechende Technologien zu entwickeln, exportieren und an einem globalen Wettbewerb bestehen zu können.