Im Westen nichts Neues: Warum Windkraft in Österreich nicht überall gleich populär ist
Ziel des heurigen Sommerurlaubs war Stralsund. Das ist jenes pittoreske Städtchen auf der kontinentalen Seite des Meereskanals, der Deutschland im Nordosten von seiner größten Insel, nämlich Rügen, trennt. Natürlich stand die Insel mit den Kreidefelsen selbst auch auf dem Ausflugsplan. Ein Fleckchen Erde, wie ich es mir als Kind ausmalte, wenn ich die Bücher von Janosch vorgelesen bekam: Im Inneren Felder bis zum Horizont, nur ganz vereinzelt Häuser, die sich in der Vegetation wegducken, von altem Baumbestand gesäumte Landstraßen und ein Himmel mit tiefstehenden Wolken. Und die zogen dahin wie Schnellzüge. Mit anderen Worten: Der Wind blies heftig. Kein Wunder, dass die dort aufgestellten Windräder durchgehend auf Hochtouren liefen. Und sie waren überall. „Da oben braucht es sicher keine Kraftwerke, die irgendetwas verbrennen“, so mein erster Gedanke.
Ost-West-Gefälle bei der Windkraft
Und dann dachte ich an Oberösterreich, wo ich wohne. Und wo der Wind auch ziemlich geht. Nur sehe ich dort eigentlich keine Windräder. Warum eigentlich?
Die Recherche ergab, dass es in Oberösterreich aktuell zehn Windkraftanlagen (WKA) gibt. Immerhin. Das ist nicht nichts. Aber fast. Denn schaut man über die Landesgrenze nach Niederösterreich – ich kann das von meinem Arbeitszimmer nicht nur sprichwörtlich, sondern tatsächlich –, so sind dort (Stand 2021) 735 WKA am Netz. Danach folgt das Burgenland mit 427 WKA. Zählt man nur die beiden Länder zusammen, ergibt das 1.162 bei insgesamt 1.307 in ganz Österreich. Das allein macht deutlich: Es gibt eine Verteilungsasymmetrie im Land. Schaut man ans Ende der Liste, wird klar: Es gibt ein Ost-West-Gefälle. Denn in Tirol, Vorarlberg und Salzburg steht keine einzige Windkraftanlage. Null. Zero.
Woran kann das liegen? Zum einen am Wind. Der ist zwar in den Bergen auch vorhanden und kann, wie jede:r Wanderer:in und jede:r Skifahrer:in weiß, sogar besonders kräftig sein. Aber laut Windatlas in einer Potenzialstudie der IG Windkraft von 2014 (am Wind dürfte sich nichts geändert haben) ist es im Schnitt (gemessen 100 Meter über Grund) in den flacheren Regionen der Republik schlicht windiger. Und die sind halt im Osten. Zudem gibt es in ebenen Gegenden wie z.B. dem Marchfeld natürlich auch mehr Fläche, die sich für die Errichtung ganzer Windparks eignet. Es spielt eben nicht nur der Wind an einzelnen Punkten eine Rolle, sondern auch die Topografie. Wo sich Berggipfel und -kämme mit bewaldeten Hängen und Tälern abwechseln, ist die Installation von Windrädern erschwert. Hinzu kommen im alpinen und hochalpinen Bereich neben Geschwindigkeitsspitzen beim Wind auch extrem niedrige Temperaturen. Die können zur Vereisung führen. Das heißt: Sollen WKA im Gebirge errichtet werden, wird es technisch aufwändiger als in der Tiefebene. Und damit auch teurer. Ausfallzeiten mindern zusätzlich den Ertrag. Es leidet also die Profitabilität und somit die Investitionslust.
Ist das Potenzial in den westösterreichischen Ländern aber so gering, dass es legitim ist, dort gar keine WKA zu betreiben? Die IG Windkraft sieht in den Ländern Salzburg, Tirol und Vorarlberg zumindest ein wirtschaftlich sinnvolles Potenzial für rund 1,25 Terawatt Maximalleistung. Das entspricht ungefähr 38 % dessen, zu was Österreichs WKA in Summe 2021 fähig waren. Nichts ist auch das nicht.
Bis 2030 muss man aufs Gas drücken – pardon, den Gashahn zudrehen
Doch schauen wir uns einmal den gesamten Strombedarf des Landes an. 2020 wurden in Österreich 70,3 TWh verbraucht. Inkludiert sind hier Netzverluste und der nicht unerhebliche Eigenbedarf der Kraftwerke. In den letzten Jahren konnte dieser Bedarf nicht aus eigener Kraft gedeckt werden. Strom musste also in größerem Maße importiert werden, als man ihn exportiert hat, wenn er überschüssig war. Zuletzt waren das 10 % des Bedarfs. Neben der Import-Export-Bilanz, die auch beim Thema Unabhängigkeit eine Rolle spielt, ist natürlich die Art der Stromerzeugung wichtig. Hier ist Österreich im Vergleich zum europäischen Durchschnitt ziemlich gut: Drei Viertel der im Land produzierten elektrischen Energie stammt aus regenerativen Quellen. Allen voran Wasserkraft mit 61 % Anteil. Klar, Berge, Gletscher, Flüsse und Seen machen das möglich. Danach folgen mit großem Abstand Windkraft (10 %) und Photovoltaik (3 %). „Pee Fau“ ist in aller Munde, kaum ein Neubau kommt ohne Solarpanels aus und jedes zweite Stadl ist gefühlt zum Sonnenkraftwerk umfunktioniert. Aus der Makroperspektive betrachtet, ist diese Art der Stromerzeugung aber noch immer irrelevant – auch wenn sich der Anteil in den letzten 20 Jahren verdreifachen konnte. Fast nichts mal drei ist aber halt noch immer fast nichts.
Der in den letzten Jahren eingeschlafene Ausbau der Windkraft könnte dagegen das Mittel zu sein, um die klimaneutrale Stromautarkie Wirklichkeit werden zu lassen – wie es im Pariser Klimaabkommen vereinbart wurde. Bis 2030 sollen hierzulande 100 % der elektrischen Energie aus erneuerbaren Quellen gespeist sein. Also nicht nur des produzierten, sondern auch des verbrauchten Stroms. Deswegen wurde im letzten Jahr das Erneuerbaren-Ausbau-Gesetz, kurz: EAG, beschlossen. Jährlich soll eine Milliarde Euro in die Expansion der Grünstromproduktion fließen. Das Programm zeigt erste Erfolge. Für 2022 wird ein Zuwachs bei den WKA von über 100 Stück prognostiziert. Der Leistungsanstieg soll bei 430 Megawatt liegen, was einem Plus von 13 % entspricht. Doch reicht diese Zuwachsrate?
Wasser- und Windkraft könnten den Strombedarf des Landes decken
13 % p.a. mal neun Jahre ergibt tatsächlich eine Verdreifachung, was bei angenommen gleichem Stromverbrauch im Land den Windkraftanteil von 10 % auf 30 % steigern würde. Die Lücke zwischen klimaneutral erzeugtem Strom und Gesamtverbrauch wäre dann nur noch minimal. Das heißt aber auch, dass der absolute jährliche Zuwachs ab jetzt kontinuierlich steigen muss. Von 430 MW auf 485 auf knapp 550 etc. Die Tageszeitung Der Standard hat im April einen Gesamtsteigerungsplan aufgestellt, der erfüllt sein müsse, um bis 2030 den gesamten Strombedarf mit Energie aus erneuerbaren Quellen zu decken. Man kommt dort zum Ergebnis, dass dazu ein Zubau von „elf Terawattstunden Photovoltaik, zehn TWh Wind, fünf Wasserkraft und einer TWh Biomasse notwendig“ sei, was u.a. einer Verdreifachung der aktuellen Windleistung entspricht. Zitiert wird hier auch Michael Trcka, Finanzchef der WEB Windenergie AG, die übrigens den größten Windpark in Oberösterreich betreibt: „Wir würden das gemeinsam hinbekommen, aber die Politik bremst.“ Warum, das ist die Frage.
Aber schauen wir uns vorher noch einmal die Zahlen an. Ein modernes Windrad erzeugt laut IG Windkraft im Jahr 15 Millionen kWh. Das sind 0,015 TWh. Gehen wir von einem künftigen Gesamtstromverbrauch (mit Verlusten und Aufwand für Speicherung und Erzeugung) in Österreich bei gestiegenem Konsum durch Wärmepumpen und E-Fahrzeuge von 80 TWh aus (die Erzeugung von grünem Wasserstoff ist hier noch nicht eingerechnet) und nehmen nur noch 50 % Wasserkraft-, dafür aber fünf Prozent Photovoltaikanteil an, braucht es für den Rest rund 2.400 Windräder. 1.300 stehen schon, wenn auch viele davon nicht auf dem technologisch neuesten Stand sind und deshalb deutlich weniger Strom produzieren. Trotzdem: Um auf die in Österreich in erster Linie als Lückenfüller zum Einsatz kommenden Gaskraftwerke vollständig verzichten zu können (sie steuern aktuell 15 % der heimischen Energieproduktion bei), sind neben dem Repowering – so nennt man die Substitution von Altbestand durch moderne Windräder – also lediglich 1.100 neue Windräder notwendig. Pro Bundesland wären das gute 120. Das muss doch möglich sein, oder?
Windparkbetreiber als Don Quijotes
Im Weg scheint wie so oft der Föderalismus zu stehen. Zwar gibt der Bund Ziele vor, aber wo Kraftwerke errichtet werden dürfen – man spricht von Zonierung –, ist Ländersache. Ebenso welche anderen Bestimmungen gelten. Gerade bei der Windkraft spielen Geräusch und Schatten für Anwohner scheinbar eine große Rolle. Hier gibt es deshalb Abstandsregeln, die teilweise so restriktiv sind, dass Bauvorhaben in manchen Bundesländern beinahe allerorten zum Scheitern verurteilt sind. Das ist aber kein österreichisches Phänomen. Derlei Hindernisse haben z.B. auch in Bayern den Neubau von WKA in den letzten Jahren einbrechen lassen. Reinhard Haas, Professor für Energiewirtschaft an der TU Wien, meint zu dieser Problematik: „Wir brauchen so etwas wie einen Flächenwidmungsplan. Was abgesehen vom Burgenland in Österreich passiert, ist vagabundierend und Wildwuchs. Für eine langfristige Windnutzung braucht es verlässliche Rahmenbedingungen. Und damit schaffen wir auch die nötige Akzeptanz, weil die Bevölkerung weiß, was in gewissen Gebieten künftig passieren wird.“ Verlässliche Rahmenbedingungen brauchen vor allem die Betreiber:innen von Windparks. Ansonsten werden sie zu Don Quijotes, die gegen die Mühlen des (Klein-)Staates kämpfen und nicht in unser aller Interesse für die Energiewende.
Bevölkerung und Akzeptanz sind ebenfalls wichtige Stichwörter. Vor allem in den vom Tourismus abhängigen Ländern Salzburg, Tirol und Vorarlberg wird nämlich gern über den Erhalt des Panoramas argumentiert. Windräder auf den Bergen würden das Landschaftsbild zerstören, weswegen die Menschen überhaupt erst aus der Ferne kämen. Klar, die lokale Politik steht hier unter Druck. Druck vonseiten der Hoteliers und Liftbetreiber:innen. Ein dem Autor jüngst in die Hände gefallener Leserbrief reagierte auf dieses Argument, in dem er die Frage aufwarf, ob die Schneisen an den Berghängen für Lifte und Überlandleitungen wirklich besser seien. Auf Rügen hat sich offensichtlich keiner um die veränderte Aussicht geschert. Ich persönlich empfand die Windräder sogar mehr als dynamische Kunstwerke, von denen in Kombination mit dem flachen Land ein ganz eigener Magnetismus ausging. Aber über Schönheit lässt sich bekanntlich streiten.
Nicht streiten lässt sich über die Dringlichkeit, gänzlich auf erneuerbare Energien umzusteigen. Da erscheint auch das Argument der westösterreichischen Länder, man leiste über die Wasserkraft, die ja im Gebirge gewissermaßen zuhause ist, einen genügend großen Beitrag zum Klimaschutz, etwas in die Jahre gekommen. Für die 100 % Zero Emission-Strom im Land muss einfach überall etwas getan werden. Im Osten wie im Westen. Zumindest ein bisschen. Und nicht Zero.
Text: Peter Mussler
Bild: DALLE-E / David Visnjic
Diese Story stammt aus dem unserem neuen Magazin „GoGreen“. Das ist hier kostenlos als Download abrufbar.