Influcancer – Über Krebs in Zeiten der Digitalisierung reden
Keine andere Themen werden im Umfeld von Innovation und Fortschritt konsequenter tabuisiert, als Krankheit und Tod. Einflussreiche Investoren lassen nach dem Jungbrunnen forschen. Unzählige MedTech-Unternehmen suchen nach dem Allheilmittel gegen eine der gravierendsten Todesursachen der Industrienationen. Jährlich werden in Österreich 40.000 Menschen mit Krebs diagnostiziert, 350.000 Menschen leiden in unserem Land mit dieser Krankheit. Das sind so viele, wie Vorarlberg Einwohner hat. Die Kampagne #talkaboutcancer will das zum Thema machen.
Martina Hagspiel war eine Zahl aus dieser Statistik, die 2010 mit der Diagnose Brustkrebs von einem Arzttermin zurückkam. Die Versicherungsmaklerin hatte die Untersuchung auf die Mittagspause gelegt. Natürlich. Das war effizient und sparte Zeit für die Termine. Der folgende Krankenstand dauerte allerdings 18 Monate. Die damals 30-Jährige war selbständig. Ihr Unternehmen bedeutete ihr alles und befriedigte ihren Ehrgeiz: Kunden, Abschlüsse, Wachstum – sie war erfolgreich, aber dennoch blieb die Unzufriedenheit ihr ständiger Begleiter.
Erfolg um jeden Preis
Hagspiel wohnte in einem schönen Appartement, führte eine glückliche Beziehung, bereiste die Welt. Um sich dieses Leben zu finanzieren, arbeitete sie durch. Dass sie latent an ihrem eigenen Ich vorbei wirtschaftete, fiel ihr erst auf, als sie nach Chemotherapie und Monaten der Ungewissheit Zeit zum Nachdenken fand. „Krebs ist eine soziale Krankheit. Der Körper schaltet Fehlschaltungen, weil man sich zu weit von sich selbst entfernt hat. Hagspiel hatte den Krebs besiegt und kam wieder aus dem Krankenstand zurück.
„Wenn in kleinen Unternehmen ein wichtiger Mitarbeiter ausfällt, dann steht der Betrieb oftmals vor dem Aus. Wir müssen uns selbst die Angst nehmen, regelmäßig zur Vorsorge zu gehen und auch in den Unternehmen ein Bewusstsein für diese Risiken schaffen. Wer sich darauf vorbereitet, kann großen Schaden vom Unternehmen abwenden“, sagt Martina Denich-Kobula, die Vorsitzende der Frauen in der Wirtschaft Wien. Martina Hagspiel konnte ihr Unternehmen nur dank der richtigen Versicherungen weiterführen. Für die meisten Selbständigen ist es aber ein existenzielles Risiko, so lange auszufallen.
Wenn die Unsterblichkeit nicht mehr ist…
Hagspiel verkaufte ihren Betrieb dann trotzdem nach ihrer Genesung. „Ich habe während der Krankheit viel über mich selbst und das Leben gelernt und meine Ansprüche an das Leben haben sich verändert“. Heute sind ihr andere Bereiche ihres Lebens wichtiger als beruflicher Erfolg und das Wachstum ihres Unternehmens. „Ich stand mitten im Leben und eine Woche später wird die Überlebenswahrscheinlichkeit für die nächsten fünf Jahre geschätzt. Wenn die dann bei 50 Prozent liegt, steht alles bisherige in einem Verhältnis.“ Auch die Chemo-Therapie hinterließ Narben. „Ich bin in wenigen Wochen um Jahrzehnte gealtert. Die Haare fielen aus, mir wuchs ein Mondgesicht und ich nahm stark zu. Sich da selbst nicht zu verlieren, ist sehr schwer“, sagt die heute 38-Jährige.
„Selbst wenn ich hätte weiterarbeiten wollen, wäre das vorige Pensum unmöglich gewesen“, erzählt Hagspiel aus der schweren Zeit. Die Leistungsfähigkeit liess rapide nach. Der „Chemo-Nebel“, eine Nebenwirkung der Chemotherapie, schlägt sich auf die Konzentrationsfähigkeit durch. „Ich konnte phasenweise nicht einmal mehr lesen“, so Hagspiel. Aber es gibt Phasen während der Erkrankung, in der Menschen arbeiten können.
Egal wie du über Krebs redest. Hauptsache du tust es.
Ihren Ehrgeiz hat Hagspiel dennoch nicht verloren. „Mir war klar, dass wenn ich zurückkomme, dann würde ich was für mich tun – ohne den Leistungsgedanken, der zuvor stark in mir ausgeprägt war. Seitdem baut sie mit Kurvenkratzer ein Influcancer-Netzwerk (bitte zweimal lesen!) auf. Auf der Videoplattform interviewt sie mit ihrem Team Onkologen, Angehörige und Krebspatienten selbst, um den Austausch unter den Betroffenen zu stärken, aber auch das Thema in der Bevölkerung zu enttabuisieren. „Über Krebs wird immer noch nicht offen gesprochen.
Dabei sind die positiven Auswirkungen eines befreiten Umgangs mit der Krankheit offenkundig. Wenn eine Patientin in ihrem Umfeld über ihren Krebs spricht, dann beschäftigen sich Freunde und Familie mit Präventivmaßnahmen. Für diese positiven Auswirkung soll die ganze Bevölkerung mit der Kampagne #talkaboutcancer sensibilisiert werden. Es entsteht ein digitaler Erfahrungsschatz für Personen, die von Krebs betroffen sind. Die Kampagne wird von vielen Publikumsmedien unterstützt und soll auch starken Niederschlag in den sozialen Medien finden.
Krankenstand light? Rechtlicher Rahmen fehlt
„Menschen wissen sofort, was Gutes aus der Krankheit entstanden ist. Krebs verändert die Menschen auch ins Positive. Wenn wir Menschen zu dem Thema interviewen, dann fällt jedem leicht zu formulieren, wie positiv die überstandene Krankheit ihr Leben verändert hat. Im privaten wie auch im beruflichen Umfeld. Wenn Menschen über ihre Erkrankung sprechen, dann sensibilisieren sie ihr Umfeld für das Thema“, so Hagspiegel.
„Für Krebskranke ist ein Arbeitsumfeld wichtig, das sie stärkt und auch im Alltag hält“, sagt Monica Rintersbacher (Geschäftsführerin der Leitbetriebe Austria), die Kurvenkratzer unterstützt. „Jeder will sich gebraucht fühlen und eine Aufgabe haben. Wenn es das Krankheitsbild zulässt, sollen Patienten auch weiterarbeiten dürfen. Dafür brauchen wir einen rechtlichen Rahmen.“
„Glück ist ein starker Faktor in unserem Leben. Wenn man gesund ist, ist Glück einfach“, sagt Hagspiel abschließend. „In der Krankheit lernen wir, dass wir uns in alle Richtungen dehnen können und dass es nicht selbstverständlich ist, dass wir morgen erleben werden.“