Wie eine internationale Forscher-Karriere (fast) ohne Fliegen funktioniert
Kommentar.
2020 ist Christoph Küffers fünftes Jahr (fast) ohne Fliegen. Darauf zu verzichten war einfach. Über einen gesellschaftlichen Wandel zu sprechen bleibt schwierig, bilanziert er.
Nach der Klimakonferenz in Paris in 2015 habe ich mich entschieden, nicht mehr zu fliegen. Ich habe meine Entscheidung als Selbstexperiment deklariert – ist eine internationale wissenschaftliche Karriere ohne Fliegen möglich? – und ich habe meine Erfahrungen in zwei Beiträgen auf dem ETH-Zukunftsblog diskutiert. In 2020 beginnt mein fünftes Jahr. Meine Schlussfolgerung bleibt gleich: eine internationale wissenschaftliche Karriere (fast) ohne Fliegen ist möglich.
Ich fliege also nicht mehr. Zudem esse ich kaum Fleisch, besitze kein Auto und kaufe möglichst wenige Produkte. Ich lebe mit meiner Familie in einer Mietwohnung und verbringe meine Ferien in der Schweiz oder im nahen Ausland. Dieser Lebensstil kostet mich kaum Willenskraft und beschäftigt mich im Alltag wenig. Ich bin als Jugendlicher so aufgewachsen. Natürlich gab und gibt es immer wieder unökologische Ausrutscher (auch ich bin früher beruflich ein paar Mal um die Welt geflogen).
Die wahre Herausforderung
Viel schwieriger als nicht zu fliegen ist, darüber zu sprechen. Ich habe mich schwergetan, nochmals über meine Erfahrungen als nichtfliegender Wissenschaftler zu schreiben. Ich fürchte mich, dass ich (wieder) als spiessiger Ideologe oder arroganter Moralist wahrgenommen werde.
«Wieso wird Verzicht als Lebensstil in unserer Gesellschaft oft als rückständig belächelt und nicht als zukunftsorientiert empfunden?» Christoph Küffer
Mein Selbstbild sieht anders aus: Ich halte mich für neugierig, risiko- und lebensfreudig, weltoffen, sozial vernetzt, urban und innovativ. Wieso wird Verzicht als Lebensstil in unserer Gesellschaft (die über ihren Verhältnissen lebt) oft als rückständig belächelt und nicht als zukunftsorientiert empfunden?
So erwische ich mich des Öfteren dabei, wie ich im Alltag mit ironischem Unterton über meine «altertümliche» Lebensweise spreche. Insgeheim hoffe ich, dass niemand lacht, wenn ich am Bahnhof nach dem Fahrplanaushang suche, weil ich kein Smartphone besitze. Für Absagen von akademischen Einladungen, welche einen Flug erfordert hätten, habe ich auch schon Ausreden verwendet, ohne meinen wahren Grund zu nennen.
Verstehen Sie mich nicht falsch. Ich stehe in Beruf und Alltag für meine Überzeugungen ein. Aber kein Wissenschaftler will als fortschrittsfeindlich gelten.
Modelle für ein nachhaltiges Morgen
Unsere Gesellschaft hat es verlernt, über andere Lebensformen und soziale Utopien zu sprechen. Das wird sich dank der Klimajungend hoffentlich bald ändern. Wollen wir im entscheidenden Jahrzehnt der 2020er Jahre eine radikale Umkehr bei CO2-Ausstoss, Ressourcenverbrauch und Artensterben schaffen, dann müssen wir über einen Systemwechsel und die Konsequenzen für unser Alltagsleben reden.
Viele von uns hoffen, dass wissenschaftlicher Fortschritt alleine die Probleme wegzaubern wird. Doch das wird kaum möglich sein, schon gar nicht für die Milliarden Menschen in Entwicklungs- und Schwellenländern, die auch von den Versprechen der Konsumgesellschaft träumen. Technologische Innovationen und Digitalisierung werden Lösungen bringen, aber wir brauchen insbesondere auch soziale Innovationen, also neue Formen des Zusammenlebens und des Wirtschaftens. Kurz: Wir brauchen Visionen für eine nachhaltige Gesellschaft.
Auch die (technischen) Universitäten sind mitschuldig an der lähmenden Sprach- und Orientierungslosigkeit unserer Gesellschaft. Man spricht lieber von einer futuristischen Zukunft dank technologischer Revolutionen als über gesellschaftliche Veränderungen. In der Schweiz gibt es aktuell keine grossen Forschungsprogramme oder Institutionen zu einer zukunftsfähigen Gesellschaft, einer Kultur der Nachhaltigkeit oder alternativen Wirtschaftssystemen.1
Mein Neujahrswunsch
Derweil tun wir Expertinnen und Experten so als wüssten wir, was richtig und falsch ist. Die Eine sagt, dass Fleischverzicht wichtiger sei als Flugscham, der Nächste sieht Plastikabfall als überbewertet, während die Dritte meint, dass Wirtschaftswachstum unverzichtbar sei. Mit solchen vermeintlichen Antworten lassen wir wenig Raum zum Weiterdenken. Wir sollten uns vielmehr den fundamentalen Fragen stellen und verstärkt den kritischen gesellschaftlichen Dialog fördern.2
Und so lautet mein Neujahrswunsch: Lasst uns frei von Verlustangst über die Zukunft sprechen. In 30 Jahren werden wir in einer fundamental anderen Welt leben. Noch können wir diese mitgestalten. Die kommende Dekade wird dafür entscheidend sein.
Dieser Text erschien zuerst als Beitrag im Zukunftsblog der ETH Zürich.
Referenzen
1 Im Vergleich beispielsweise zu Deutschland, z.B. Institut für transformative Nachhaltigkeitsforschung IASS, Rachel Carson Center for Environment and Society oder Reallabor-Forschung in Baden-Württemberg.
2 Was damit gemeint sein könnte, diskutiert dieser Artikel: Kueffer, C., Schneider, F., Wiesmann, U. 2019. Addressing sustainability challenges with a broader concept of systems, target, and transformation knowledge. GAIA 28(4): 383-385.