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Leben mit 79 Prozent Inflation in der Türkei: Erdogan und das „Shitmoney“

Geld wechseln in der Türkei: Umgerechnet sind das 200 Euro. © Trending Topics / Oliver Janko
Geld wechseln in der Türkei: Umgerechnet sind das 200 Euro. © Trending Topics / Oliver Janko
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„No Lira, please. Shitmoney!“ So klingt das Feedback, wenn man auf dem Bazar in Istanbul das extra umgetauschte Geld wieder in Umlauf bringen will. Gewünscht werden Euro und US-Dollar, die eigene Währung wird nur ungern angenommen. Was auf den ersten Blick verwundert, hat einen ernsthaften Hintergrund: In der Türkei stieg die Inflation zuletzt in dramatische Höhen, sie liegt mittlerweile bei 79 Prozent.

In absehbarer Zeit dürfte sich daran auch nichts ändern. Präsident Erdogan, omnipräsent auf Istanbuler Plakatwänden, glaubt lieber an den Koran als an die Wissenschaft und klassische demokratische oder oppositionelle Wege, um zumindest Gegenargumente und alternative Lösungen aufzeigen zu können, wurden abgeschafft. Auch der Tourismus schwächelt. Und die Bevölkerung? Die zahlt die Zeche.

Die Russ:innen fehlen

Strahlende Sonne, keine Wolke am Himmel, eine sanfte Meeresbrise, vermischt mit dem Duft von Tee. Früh morgens, noch bevor die Massen auf den Bazar strömen, herrscht angenehme Ruhe. Vor jedem Stand sitzen Kleingruppen, versammelt um Tee und das Frühstück. Potenzielle Kund:innen sind dennoch gerne gesehen, aus jeder Ecke hallt es, einmal lauter, einmal leiser „Good Morning!“ oder, sobald klar ist, dass Deutsch gesprochen wird, „Guten Morgen“.

Wer auf den „Großen Bazar“ in Istanbul marschiert, bekommt allerdings nicht nur einige Klischees zu sehen, sondern auch die realen Auswirkungen einer (Welt-)Wirtschaftskrise. Zumindest der Gastfreundlichkeit scheint die wirtschaftliche Situation in der Stadt am Bosporus aber keinen Abbruch getan zu haben. Klar ist aber auch: Der Tourismus ist für das Land dieser Tage noch bedeutender, als er es ohnehin schon war – wenngleich die Russ:innen fehlen, wie in der Hotellobby zu hören war. Um das Problem in Zahlen zu fassen: Sieben Millionen russische Tourist:innen erwartete man für das Jahr, mittlerweile geht Mehmet Isler, stellvertretender Vorsitzender des türkischen Hotelierverbands, gegenüber der Deutschen Presseagentur nur noch von rund drei Millionen Besucher:innen aus.

Die Abwertungsspirale der Türkei

Welche Auswirkungen dieser Umstand haben wird, wird sich erst zeigen. Es sind aber nicht die einzigen Zahlen, die widerspiegeln, wie die Türkei derzeit strauchelt. Vor einigen Tagen präsentierte die türkische Notenbank die aktuelle Inflationsrate: Fast 80 Prozent, die Verbraucherpreise steigen weiter rasant an. Zum Vergleich: Noch im November 2021 lag die Rate bei 21,3 Prozent, zuvor sogar dauerhaft unter der 20-Prozent-Grenze. Danach ging alles schief oder lief schlichtweg in eine falsche Richtung. Die türkische Lira legte einen dramatischen Kursverfall hin und verlor enorm im Vergleich zu Euro oder US-Dollar. Importkosten stiegen – und damit die Lebenshaltung der Bevölkerung und die laufenden Kosten für Unternehmen und Betriebe.

Lebensmittel kosteten im Juni dieses Jahres fast doppelt so viel wie im Mai 2021, die Preise stiegen im Schnitt um 92 Prozent. Mittlerweile geht es rasant: Noch im Juni lag die Teuerungsrate bei unter 75 Prozent, insbesondere Transportdienstleistungen (inklusive Benzin) und Lebensmittel wurden innerhalb weniger Wochen (und manchmal nur Tage) abermals deutlich teurer. Die Folge: Eine stärkere Inflation und die sogenannte Abwertungsspirale. Einmal darin gefangen, braucht es verschiedene Instrumente, um wieder die Oberhand zu gewinnen. Allem voran, und da sind sich so gute wie alle Expert:innen einig: Höhere Zinsen. Daran wiederum glaubt aber Recep Tayyip Erdogan nicht, immerhin verbietet ja auch der Koran hohe Zinssätze, Spargewinne und „Wucher“ – und was lässt sich schon gegen höhere Mächte ausrichten?

Wer anders denkt, fliegt

Tendenziell würde es vielleicht auch reichen, auf die heimische Expertise zu hören. Es ist nämlich nicht so, dass in der Türkei alle Expert:innen Erdogans Ansichten folgen – im Gegenteil. Nur: Wer anderer Meinung ist, hat schnell nichts mehr zu sagen. So ging es auch einigen Zentralbankchefs, sogar noch vor dem rapiden Anstieg der Inflationsrate ab November 2021. Auch ein leitender Mitarbeiter des Statistikamtes musste gehen.

Scheine wie Monopoly-Geld

Soviel zur Politik. Spannender ist ohnehin die Frage, was die Situation mit den Millionen Türkinnen und Türken macht. Im touristisch erschlossenen Teil von Istanbul ist auf den ersten Blick wenig von den Teuerungen zu spüren – aus westlicher Sicht, das sei angemerkt. Wie schlecht es um die Lira bestellt ist, zeigt der erste Gang zum Geldautomaten: 200 Euro sind umgerechnet etwa 3.486 Lira. Der Betrag wird in 50er-Noten ausgegeben, 68 Scheine und ein paar Münzen spuckt der Bankomat aus. Das sprengt jede Geldbörse. Also rein in den Rucksack und rausfischen, wenn gebraucht. Selten, dass Geld so locker von der Hand geht – es ist aber eben auch so gut wie nichts wert.

Am Großen Basar. © Trending Topics / Oliver Janko
Am Großen Basar. © Trending Topics / Oliver Janko

„No Lira, please. Shitmoney!“ – so klingt es dann, wie eingangs erwähnt, am Basar, wenn klar wird, dass unser Erstaunen (und leichtes Amüsement) über die wertlose Währung für die einheimische Bevölkerung alles andere als ein Scherz ist. „Es wird immer schlimmer“, berichtet Emre (Name geändert), der mehrere Shops am Bazar betreibt. Davor arbeitete er jahrelang in Deutschland , was ihm das Leben jetzt erleichtere, erzählt er nebenbei. Am Bazar hat sich für ihn noch nicht viel geändert, das alles teurer wird, merke er aber auch.

Andere gehen stringenter mit der Situation um: Ein Schmuckhändler will erst Lira gar nicht annehmen, er besteht auf Euro, wenn es sein muss nehme er auch US-Dollar. Ende Juni – zum Zeitpunkt dieser Reportage – war die US-Dollar/Euro-Parität noch in weiter Ferne. Das Problem aus seiner Sicht: Gerade viele Touristen würden nach wie vor gleich nach der Einreise Geld wechseln – das dann auch in die Wirtschaft muss. Insofern bleibt oft gar nicht viel anderes übrig, als doch wieder Lira in den Umlauf zu bringen bzw. anzunehmen. Zur Freude der Touristen, zum Leidwesen der einheimischen Verkäufer:innen.

Fachkräfte wandern aus Türkei aus

Kurz- und mittelfristige Auswirkungen lassen sich bereits jetzt erkennen, die oben beschriebenen Beispiele decken nur einen minimalen Teil der Problematiken ab. Langfristig wird die Türkei mit deutlich größeren Problemen zu kämpfen haben: Funktioniert eine Volkswirtschaft nicht mehr wie gewünscht, richten es sich die einzelnen Bevölkerungsschichten in der Regel selbst – zumindest die, die das noch können. Wie Euronews etwa kürzlich berichtete, beantragten im Vorjahr mehr als 1.000 Ärztinnen und Ärzte bei der türkischen Ärztekammer ein sogenanntes „Good Standing“-Dokument. Das erlaubt es den Inhaber:innen, auch außerhalb der Türkei als Ärztin/Arzt praktizieren zu können. Der Fachbegriff für die Abwanderung von Fachkräften: Brain Drain. Das „Hirn“ der Volkswirtschaft wandert aus, Akademiker:innen und Intellektuelle flüchten zunehmend.

Erdogan weiter gegen Zinsen

Die „Österreichische Forschungsstiftung für internationale Entwicklung“ sieht folgende negative Auswirkungen eines Brain Drain: „Humankapitalverlust, Personalknappheit in für die Entwicklung strategischen Sektoren, vor allem bei Gesundheit, Bildung, Verwaltung, Schwächung der Institutionen und der Innovationskraft des Landes und den Verlust des Beitrags Hochqualifizierter zur öffentlichen und demokratischen Auseinandersetzung“. Das ist das, was auch heute bereits vermehrt passiert. Freilich interessiert das Präsident Erdogan nur wenig oder er hat schlichtweg keine Lösungen parat. Wo Wissenschaft keinen Wert mehr hat, verhallen auch ihre Warnungen schnell. So erklärte er erst Ende 2021, als die Inflationsrate übrigens erstmals über 35 Prozent sprang: „Solange ich lebe, behaupte ich fest: Leitzinsen sind der Grund und Inflation die Folge“. Zudem appellierte er an die Bevölkerung, Ersparnisse „in unserer eigenen Währung aufzubewahren und alle Geschäfte in unserer eigenen Währung abzuwickeln“.

Emre und seinen hunderten Kollegen vom Bazar dürfte das mittlerweile egal sein. Sie wünschen sich einfach nur eine vergleichsweise stabile Währung für die Türkei – und kein Shitmoney.

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