„Demo gehen statt untergehen“: Die Klimaaktivistinnen Lena Schilling und Paula Dorten im Interview
Mit Greta Thunberg fing es an. Seither entwickelte sich eine weltweite Klimabewegung. Einer Bewegung, der auch Lena Schilling (21) und Paula Dorten (16) angehören. Am Megaphon in der ersten Reihe stehend kämpfen sie für mehr Klimaschutz, soziale Gerechtigkeit und die Lobau. Ohne Megaphon in der Hand kämpfen sie gegen Gedankenschleifen, Anfeindungen, Grenzen der Streiks und den Wunsch nach mehr Radikalität.
Weiß umgeben von Gelb – der kleine Teich mitten im Wiener Bezirk Meidling ist Ende August nach Wochen großer Hitze und wenig Niederschlag ausgetrocknet. Zum Vorschein kommen weiße, flache Steine umgeben von trockenem Ufergras und Schilf. Lena Schillig steht in der Mitte des Areals und blickt sich wenig begeistert um. Die 21-jährige aus Meidling ist Aktivistin, Sprecherin des Jugendrates, Sprecherin von LobauBleibt und der Initiative Lieferkettengesetz und hat kürzlich ihr erstes Buch vollendet. Ihr „Lohnjob“, wie sie es nennt, ist Tanzlehrerin, nebenbei studiert sie auch „ein wenig“ – nicht überraschend – Politikwissenschaften.
Ende August ist aber nicht nur die Zeit ausgetrockneter Teiche, sondern auch der Moment eines Jubiläums. Das unter anderem von ihr initiierte Protestcamp gegen den Bau der sogenannten Lobau-Autobahn samt Tunnel und der Stadtstraße feierte sein einjähriges Bestehen. Von einem solchen „Festtag“ ist Schilling im August 2021 nicht ausgegangen, wie sie sagt. Nach mehr als 365 Tagen nun, gefüllt mit Erfolgen, wie den aktuellen Baustopp der Lobau-Autobahn und des Tunnels durch die Verkehrs- und Klimaschutzministerin Leonore Gewessler (Grüne) Anfang Dezember 2021 und Tiefpunkten, wie den viel diskutierten polizeilichen Räumungen, einem mutmaßlichen Brandanschlag und Klageandrohungen durch die Stadt Wien, haben die Aktivist:innen Anfang September den eigenen Angaben nach das Basiscamp Anfanggasse, und damit den letzten Standort, eigenständig geräumt. Sie geben an, umgezogen zu sein. Sie geben auch an, nicht auf eine polizeiliche Räumung warten zu wollen. Wohin ist noch nicht klar.
„Hassliebe“
„Beziehungsstatus: Es ist kompliziert“ und als eine „Hassliebe“ bezeichnet die gebürtige Wienerin inzwischen ihr Verhältnis zur Stadt. Schilling selbst sagt, sie freue sich jetzt, und das sei auch schon im Sommer so gewesen, auf eine Pause. Eine Pause, die nicht mit einem Ende des Aktivismus zu verwechseln sei, wie sie betont, dieser würde ja nicht enden. „Wichtig ist, dass der Protest gegen klimaschädliche Großprojekte weitergeht“, so Schilling. Ob es weitere Protestcamps geben werde, sei noch nicht klar, vielleicht nicht in Wien, sondern in anderen Teilen Österreichs. Jetzt liege der Fokus einerseits auf der österreichweiten Vernetzung, andererseits auf der Entwicklung von neuen Protestmethoden. „Bewegungen sind dynamisch. LobauBleibt bleibt in Bewegung. Auch klar ist aber, dass wir zwischen Inflation, Klima- und Energiekrise viele Baustellen haben“, so die Aktivistin.
Baustellen, die auch immer wieder neue Streiks hervorrufen. Der September war wieder einmal, fast traditionell inzwischen, der Monat, der für einen weltweiten Klimagroßstreik steht. Dieser sei bereits der zehnte oder elfte, so Schilling, je nachdem wie man zähle. Im Frühjahr 2019 fand der erste weltweite Klimagroßstreik statt. Nun also bewegt sich die Zahl bereits im zweistelligen Bereich. Ob nun ausgesprochen oder nur gedacht – es steht die Frage im Raum, wie viel diese am Ende bringen, jetzt, wo der Begriff „Klimaaktivismus“ den meisten Menschen hierzulande bekannt ist. „Ja, ich glaube, das ist eine sehr berechtigte Frage“, so Paula Dorten. Die 16-jährige Schülerin ist seit 2020 Teil von Fridays For Future Austria. Inzwischen ist sie auch beim Jugendrat und der LobauBleibt-Bewegung aktiv und hat gemeinsam mit dem ORF-Meteorologen Marcus Wadsak ein Buch veröffentlicht.
„Ich höre mittlerweile schon auf zu zählen, der wievielte Klimastreik es jetzt ist. Es ist unglaublich frustrierend. Ja, wir gehen jetzt zum elften Mal weltweit auf die Straße und im Endeffekt haben wir noch immer dieselben Forderungen wie vor eineinhalb Jahren“, so Dorten und bezieht sich damit auf erwartete, aber weiterhin ausstehende Gesetze oder Verordnungen. Ein Beispiel: ein aktuelles Klimaschutzgesetz. Das „feierte“ im August 2022 bereits 600 Tage Überfälligkeit, nachdem das letzte Gesetz dieser Art ausgelaufen ist.
Dorten: „Demo gehen statt untergehen“
Den Entstehungsprozess von Klimaschutzgesetzen haben die Forschenden Sarah Louise Nash und Reinhard Steurer anhand von entsprechenden Gesetzgebungen in Schweden, Dänemark, Österreich und Schottland in einer 2021 im Journal „Climate Policy“ veröffentlichten Untersuchung analysiert. Dabei kamen sie zu dem Schluss, dass ein unterstützender Klimadiskurs und Möglichkeiten zur Deliberation innerhalb des parlamentarischen Prozesses bei der Entstehung eines ambitionierten Gesetzes helfen, so Nash. Zudem seien diese beiden Faktoren in ihren untersuchten Fällen wichtiger gewesen als die parteiliche Zusammensetzung der Regierung.
Wer besseren Klimaschutz will, könne das vor allem durch Demos und Wahlen erwirken, resümierte Steurer im August 2021 auf Twitter. Auch Dorten sieht darin weiterhin die Möglichkeit, wie sich jede:r für das Klima sinnvoll einsetzen kann: „Demo gehen statt untergehen“, so die Aktivistin. Für sie gleicht der Gang auf die Straße einer Befreiung: „Ich glaube, dass viele Menschen in einer gewissen Ohnmacht stecken, bevor sie überhaupt begreifen, dass sie auf die Straße gehen und ihre Stimme nutzen können.“
Allerdings – das allein reicht ihr nicht mehr. Sie will radikalere Aktionen, radikaleren Aktivismus. „Wir brauchen Besetzungen, wir brauchen zivilen Ungehorsam, weil wir sonst einfach nicht gehört werden“, so Dorten und verweist auf die Causa Lobau. Diskussionen und Proteste habe es bereits seit Jahren gegeben, „aber erst, als wir uns auf die Bagger gesetzt haben, als wir die Baustelle besetzt haben, wurden wir gehört“, so die Aktivistin, „Wenn ich nicht damit gehört werde, dass ich mit einem Pappschild auf der Straße stehe und in ein Megaphon brülle, dann muss ich mich an die Straße anketten.“
Schilling: „Zeit gekommen, einen Schritt weiterzugehen“
Mit dieser Aussage stößt sie auch bei Lena Schilling auf Konsens. Sie reagiert auf die Frage „Was bringen die Großstreiks aktuell noch?“ mit der Antwort: „Die Frage stellen wir uns glaube ich alle.“ „Ehrlich gesagt, ich glaube, es ist die Zeit gekommen, dass wir einen Schritt weitergehen“, so Schilling. Wie wird dieser Schritt aussehen? Ganz offen legt sie ihre Karten nicht, aber: „Wir als Jugendrat haben schon vor einiger Zeit angekündigt, dass, wenn die Regierungen nicht handeln und ihre Versprechen nicht einhalten, wir sie dazu zwingen werden. Es ist immer wieder gesagt worden und es stehen Dinge an, wie Schulbesetzungen und Co […]. Klar ist: Wir lassen uns nicht entmutigen.“
Klar ist aber auch, getroffen werden von solchen Aktionen alle – ob nun Klimaschutzbefürworter:innen oder Menschen mit diesbezüglich ablehnender Haltung. Die Aktionen der Aktivist:innengruppe „Letzte Generation“ sorgten in letzter Zeit für Aufmerksamkeit, sei es durch das Festkleben auf der Wiener Ringstraße im Berufsverkehr oder aber das Ankleben an das Gemälde „Sixtinische Madonna“ des Künstlers Raffael in Dresden. Das führt zu diversen Reaktionen. „Das kriegerische Auftreten ist aus meiner psychologischen Sicht nicht ideal, da man damit auch die gemäßigten Personen, die ambivalent sind, eher abschreckt. Diejenigen, die komplett dagegen sind, gehen auf Gegenangriff“, so Norman Schmid. Er ist der Leiter der Fachsektion Umweltpsychologie des Berufsverbands Österreichischer Psychologinnen und Psychologen (BÖP), als klinischer Psychologe in einer Praxis tätig und hat zuletzt im Master Umweltmanagement studiert. Das heiße aber nicht, dass man nicht manche Dinge beim Namen nennen könne, gibt er ergänzend an.
Angst, dass sie etwaige Unterstützende mit zivilem Ungehorsam vor den Kopf stoßen, haben aber weder Schilling noch Dorten. Erstere argumentiert, dass die Klimabewegung breit genug sei, dass alle Menschen ihren Platz fänden. Ihrem Verständnis nach geht es bei Radikalität darum, Probleme von der Wurzel her zu lösen. Eine Wurzelbehandlung, die die Klimakrise ihrer Meinung nach braucht. Dorten führt zudem einen Vergleich zu Streikaktionen von Gewerkschaften an, beispielsweise der Eisenbahner:innen, von denen ebenfalls Unbeteiligte betroffen sind. Genau das baue aber Druck auf die Verantwortlichen auf.
„Es ist ein Marathon, kein Sprint“
Anders als ein Gewerkschaftskampf hat die Klimakrise allerdings eine Crux – die zeitliche Dimension ist eine ganz andere. Schilling paraphrasiert den Kampf gegen die Klimakrise wie folgt: „Es ist ein Marathon, kein Sprint“. Ein Marathon, der kräftezehrend sein kann. „Am Anfang der Sommerferien wollte ich schon nicht mehr die Nachrichten schauen. Ich hatte schon wirklich Angst, die Zeitung zu öffnen und jeden Tag aufs Neue eine Schlagzeile zu sehen, in der steht: Waldbrand, Überschwemmung, eine neue Naturkatastrophe, die Klimakrise kostet Menschenleben oder Ähnliches. Das schweißt mich ein, weil es eine große Ungewissheit ist, in die wir hineinsteuern“, so Dorten. Aber es sei nicht nur das, sondern auch die Gewissheit, dass es noch schlimmer werden würde und dies jetzt die neue Realität und die Klimakrise einfach Gegenwart geworden sei.
„Definitiv sind Jugendliche […] zu einem großen Teil massiv belastet“, so der Psychologe Schmid. Zu diesen Belastungen gehören unter anderem teilweise die Klimakrise, aber auch die Auswirkungen multipler Krisen und natürlich die Folgen der Pandemie. Schmid zufolge hätte es erstmals seit Beginn der soliden Erfassung psychischer Störungen nach dem zweiten Weltkrieg während der COVID-19-Krise eine deutliche Steigerung ebendieser gegeben, übermäßig stark bei Jugendlichen. In einem 2022 veröffentlichten Bericht der WHO wird von einem weltweiten Anstieg der Fälle von Depressionen und Angststörungen allein im ersten Pandemiejahr um mehr als 25 Prozent berichtet.Typische Störungen seien beispielsweise Angststörungen, Depressionen, Schlafstörungen, somatische Belastungsstörungen, Zwänge und, wenn jemand etwa klimaaktivistisch tätig sei, auch Burnouts, so Schmid. „Das Spannende bei der Burnout-Thematik ist ja, dass, wenn ich mich sehr engagiere und damit auch sehr erfolgreich bin, ich das auf einem relativ hohen Niveau aushalten kann. Das Dilemma beim Klimaaktivismus ist jetzt natürlich einerseits extrem viel Engagement und anderseits super viel Frustration“, sagt Schmid. Zusätzlich warnt er vor der Entstehung von Traumata, die beispielsweise durch polizeiliche Räumungen entstehen können. Schmid sieht da Versäumnisse und die Verantwortung bei der Regierung.
Aber – ein reines Jugendproblem scheinen Klimaängste nicht zu sein: „Ich gehe eher davon aus, dass die psychischen Beeinträchtigungen durch die Klimakrise mehr werden. Wir bemerken das auch in der Praxis, dass zunehmend Personen im mittleren und älteren Alter sich durch Brände, Dürre, Überschwemmungen und Hitze betroffen fühlen“, so der Psychologe.
„Es braucht Abstand“
Dass diejenigen, die bei Protesten in der ersten Reihe stehen, auch manchmal zweifeln, ob sie das weiterhin tun wollen, ist also kaum verwunderlich. Wie die 16-jährige Dorten angibt, gibt es viele Momente, in denen sie auch über einen Ausstieg nachdenkt. Auch die 21-jährige Schilling hinterfragt manchmal die Rolle, die sie innehat: „Es gibt ganz viele Menschen in der Klimabewegung, großartige Sprecher:innen und dann ist die Frage: Muss ich mich so exponieren?“ Gedanken, die insbesondere in schwierigen Momenten und bei Konfrontationen mit Hass im Netz kommen. Aufgeben ist für sie trotzdem keine Option, „dann hätten sie ja gewonnen“, so Schilling. Auch für den Psychologen Schmid liegt der Weg eher darin, schon früher anzusetzen, bevor nur noch ein Ausstieg in Frage kommt. Insbesondere in Fällen von Hass im Netz empfiehlt er, diese gar nicht durchzulesen, sich nicht bewerten zu lassen, sich an Behörden zu wenden und Unterstützung zu holen und vor allem: Mobilisierung. Mobilisierung derjenigen, die sich zustimmend äußern, nicht nur auf der Straße, sondern auch im Netz.
Und außerhalb der virtuellen Welt? „Es braucht die Regeneration, es braucht den Abstand“, so Schmid. Bedeutet: Bücher lesen, die nichts mit der Klimakrise zu tun haben, Parties, wo das Klima kein Thema ist, den eigenen Fokus erweitern und auch kleine Fortschritte, Erfolge zu sehen, zu feiern, mit sich zufrieden zu sein. Und manchmal braucht es eben eine temporäre Pause.
Keine Frage der Wahl
Von einer Pause ist im Klimaaktivismus allgemein derweil nichts zu spüren. Trotz Gedanken, die alles hinterfragen, ist ein Ende für Paula Dorten schlussendlich keine Option. „Ich habe einfach keine andere Wahl als Aktivismus zu machen und viel mehr, als dass es mir Angst gibt und ich frustriert bin, gibt es mir die Kraft und die Hoffnung, dass wir es noch schaffen können!“
Zu einer anderen Zeit, im ausgetrockneten Teich in Meidling, drückt sich Lena Schilling ähnlich aus: „Wir haben dieses Jahr 50 Jahre Club of Rome gefeiert*. Seit 50 Jahren wissen wir Bescheid, dass die Welt untergeht und wir sind nicht weiter.“ Als Gründe sieht sie unwillige Regierungen und das bestehende System. Von daher: „Es ist ein Versuch, keine Ahnung, ob es selbst mit dem Klimaaktivismus noch funktioniert, aber ich würde sagen: Wir haben keine andere Wahl.“
Text: Jasmin Spreer
Fotos: David Visnjic
Diese Story stammt aus dem unserem neuen Magazin „GoGreen“, das seit Mitte Oktober verfügbar ist. Das Interview wurde im September und Oktober geführt. Das Magazin „GoGreen“ ist hier kostenlos als Download abrufbar.