Man kann schon Angst um Europa bekommen. Man muss aber nicht.
„Wirtschaft: AfD-Sieg ist Gefahr für Firmen.“ „Bei VW brechen stürmische Zeiten an.“ „Warum der Gaspreis deutlich teurer wird.“ Alleine, wenn man heute morgen LinkedIn aufmacht und die Schlagzeilen im News-Bereich liest, könnte man das wieder mal als Anlass für düstere Zukunftsstimmung in Bezug auf Europa, Deutschland und das wirtschaftlich stark verbundene Österreich sehen. Ist das noch ein Umfeld, in dem man gründen und wachsen will?
Dazu kommen dann noch Dinge wie schlechtere Finanzierungsmöglichkeiten in Europa und Abwanderungstendenzen in Richtung USA, die einem die Laune vermiesen können. Was man aber auch machen kann: Das Interview mit Hermann Hauser lesen. Dem Arm-Mitgründer – Arm ist an der Börse 130 Mrd. Dollar wert – und Startup-Investor gelingt es (wissend um all die Probleme des Alten Kontinents) immer wieder, die positiven Seiten zu sehen.
Und die sehen so aus:
In Europa gibt es mehr AI-Entwickler als in den USA
OpenAI, Anthropic, Perplexity und Co.: Die bekanntesten und best finanzierten AI-Startups (ganz abgesehen von den Hyperscalern, die auch stark auf AI setzen) sitzen in den USA. Daneben wirken europäische Startups wie Mistral AI (Frankreich) oder Synthesia (London) eher klein. Doch wer hoch hinaus will, braucht nicht nur Nvidias H100-Chips, sondern auch das Personal, das weiß, wie man damit umgeht. Und da gibt es in Europa mehr Talente als in den USA, wie der „State of European Tech-Report zeigt (siehe unten). Laut Investorin Katharina Wilhelm von Index Ventures ist die Pro-Kopf-Konzentration von KI-Expert:innen unter den Softwareingenieur:innen in Europa um 30 Prozent höher als in den USA und fast dreimal so hoch wie in China.
Mehr Developer in Europa als in den USA
Oft wird auch unterschätzt, wie viele Entwickler:innen es in Europa gibt. Betrachtet man die Zahlen auf Länderebene, so führen sicherlich die USA. Eine Umfrage von Stack Overflow, einer beliebten Online-Plattform für Developer, zeigt aber, dass die meisten Entwickler:innen aus Europa kommen. Zählt man Deutschland, Großbritannien, Frankreich, Polen und die Niederlande zusammen, kommt man bereits auf 22,6 Prozent vs. den 18,9 Prozent der USA. Würde man noch die Ukraine berücksichtigen (dort mussten aber viele Männer in den Krieg ziehen), würde man europaweit auf sogar 26,2 Prozent kommen.
Bedeutet: Europäische Startups und Tech-Unternehmen können auf einen größeren Arbeitsmarkt im Entwicklungsbereich zugreifen als US-amerikanische. Und nicht nur das: G2 Ventures zufolge sind diese auch deutlich günstiger. Ein leitender Software-Ingenieur in Europa würde etwa 80.000 bis 120.000 Dollar pro Jahr an Gehalt bekommen, in den USA aber 160.000 bis 200.000 Dollar.
Mehr Tech-Talente kommen aus den USA nach Europa als umgekehrt
Oft wird bedauert, wenn Startups aus Europa ins Silicon Valley gehen, um dort viel Geld aufzunehmen, ihr Business am US-Markt aufbauen und dann sogar einen IPO an der Wall Street anpeilen. Befürchtet wird dann oft ein so genannter „Brain Drain“, also ein Verlust von Talenten und Know-how an die USA. Tatsächlich aber ist es so, wie der „European State of Tech“-Report zeigt, dass mehr Tech-Leute aus den USA nach Europa kommen als umgekehrt.
„Europa ist ein Netto-Nutznießer der Talentströme und zieht neue Berufsanfänger:innen aus der ganzen Welt an. Das bedeutet, dass wir mehr internationale Talente hinzugewinnen als verlieren“, heißt es in dem Report, für den “Atomico“ und “revelio Labs“ Zahlen erhoben haben. „Bemerkenswert ist, dass mehr Talente aus den USA in die europäische Tech-Szene abwandern als europäische Talente in die US-Tech-Szene, was die Anziehungskraft zeigt, die europäische Unternehmen heute ausüben. Tatsächlich ist Europa ein Nettogewinner von Talenten aus jeder einzelnen Region, mit Ausnahme von Australien.“
Mehr Startups in Europa als den USA
Es ist eigentlich nur logisch: In Europa gibt es etwa 450 Millionen Einwohner:innen, in den USA sind es etwa 340 Millionen. Deswegen sollte man nicht immer nur das Silicon Valley als Herz der Tech-Industrie wahrnehmen, sondern auch gelten lassen, dass dahinter dann schon „New Palo Alto“ kommt. Dabei handelt es sich um einen Kunstgriff, indem man London, Paris, Amsterdam und Berlin zusammenzählt.
Jedenfalls, das zeigt der „State of European Tech Report für 2023, sind in Europa sind im Vorjahr 14.000 Startups gegründet worden, während in den USA rund 13.000 neue Jungfirmen entstanden sind.
Mehr Geld, weniger Regulierung
An Gründer:innen, Startups und den dafür wichtigen Menschen für die Tech-Teams mangelt es in Europa also nicht. Damit gibt es eigentlich „nur“ zwei Baustellen: Einmal das liebe Geld, damit europäische Startups mit den US-amerikanischen mithalten können und nicht wie Aleph Alpha neben OpenAI und Co untergehen, und einmal die Gesetze, die den Markt bestimmen. Die EU ist immer sehr gut darin, viele neue Regeln einzuführen (Bsp.: DSGVO, MiCA, AI Act). Besser wäre aber mal, mehr Speed (Stichwort Kapitalmarktunion) beim Thema Kapital zu zeigen und sich bei der Regulierung ein bisschen mehr Zeit zu lassen – um auch mal sehen zu können, was der Standort und seine Unternehmen wirklich an Regulierung brauchen.
Laut EU-Kommission fließen jährlich rund 300 Milliarden im Jahr aus Europa ab – meistens in den US-amerikanischen Kapitalmarkt. Wenn man nur ein Zehntel davon umlenken könnte, wäre das enorm viel Geld pro Jahr, um richtig große Finanzierungsrunden für Europas beste Unternehmen stemmen zu können – und mit einem Schlag wäre man auch hinsichtlich der Finanzierung wettbewerbsfähiger.
P.S.: Das Bild des Artikels wurde mit dem AI-Modell Flux.1 von Black Forest Labs aus Deutschland generiert. Es war nach dem Geschmack der Trending Topics Redaktion besser als der Vorschlag, den Dall-E 3 von OpenAI machte.
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