Analyse

mySugr-Exit: Warum das Startup verkauft hat, und was der Pharmakonzern Roche bekommen hat

Eine App, die ziemlich viele Daten erfasst: mySugr. © mySugr
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Wer es in die Hosentaschen der Patienten geschafft hat, der ist im Rennen der Pharma-Riesen um die Zukunft der digitalen Medizin viel wert: Der Exit des 2012 in Wien gegründeten Startups mySugr an den Schweizer Pharmakonzern Roche (Trending Topics berichtete) ist am vergangenen Freitag ordentlich eingeschlagen. Als eigenständige Firma bleibt mySugr bestehen und wird mit seiner Diabetes-App seine mehr als eine Million Nutzer weiter von Wien aus betreuen – mit einem Team, das von derzeit 47 (davon 14 Diabetiker) auf 200 Mitarbeiter im Jahr 2019 anwachsen soll.

Der Deal, der sich Brancheninsidern zufolge in der Größenordnung von grob 80 Millionen Euro abgespielt haben soll, ist nach Runtastic und Shpock der dritte große Verkauf einer heimischen, auf Mobile spezialisierten Jungfirma – und wird als Zeichen dafür gehandelt, dass österreichische MedTech-Startups im internationalen Rennen eine Rolle spielen können.

Unter Zugzwang

Sowohl Roche als auch mySugr standen vor dem Deal unter Zugzwang. Das Startup, vor fünf Jahren von Frank Westermann (CEO), Fredrik Debong, Michael Forisch und Gerald Stangl aus der Taufe gehoben und 2015 mit 4,2 Millionen Euro Risikokapital ausgerüstet, musste laut Firmenbuch für das Geschäftsjahr 2015 einen Bilanzverlust von 4,48 Millionen Euro ausweisen – die Suche nach einem Investor für eine neue Finanzierungsrunde bzw. einen Käufer wurde in den vergangenen Monaten notwendig. Parallel dazu nahmen eine Reihe direkter Konkurrenten massiv Risikokapital auf: Livongo aus Mountain View etwa erhielt im März 2017 ein Investment von 53,5 Millionen Dollar, Glooko aus Palo Alto wurde zwischen 2015 und heute mit fast 60 Millionen Dollar Risikokapital ausgestattet.

Zudem bildeten sich mächtige Allianzen im Bereich digitaler Lösungen für Diabetiker. Google und der französische Pharma-Riese Sanofi beschlossen im September 2016 ein Joint Venture namens Onduo im Rahmen von 500 Millionen Dollar, Welldoc (schon ausgestattet mit 57 Millionen Dollar Investment) schloss Partnerschaften mit Samsung und dem US-Pharmakonzern Johnson&Johnson. Kein Wunder: Immerhin ist der Markt für Diabetiker in den USA etwa 200 Milliarden Dollar, in der EU rund 100 Milliarden Euro schwer. Die Schweizer Roche mussten in diesem Marktumfeld ein Zeichen setzen und ebenfalls zeigen, dass sie in Sachen personalisierter, digitaler Gesundheitslösungen mitspielen können und wollen. Als früher mySugr-Investor lag es für Roche also nahe in Europa zuzuschlagen.

Gemessen am Umsatz ist Roche der zweitgrößte Pharmakonzern der Welt. Gemessen an den Ausgaben für Forschung und Entwicklung sogar der größte, wie eine Studie des Wirtschaftsprüfers und Steuerberaters Ernst & Young für 2016 zeigt:

Firma Umsatz 2016 F&E 2016 Herkunft
Pfizer 44,7 Mrd. Euro 3,8 Mrd. Euro USA
Roche 37,7 Mrd. Euro 7,9 Mrd. Euro Schweiz
Merck 31,8 Mrd. Euro 6,1 Mrd. Euro Deutschland
Johnson&Johnson 30,2 Mrd. Euro 6,3 Mrd. Euro USA
Novartis 29,4 Mrd. Euro 6,4 Mrd. Euro Schweiz
Sanofi 29,2 Mrd. Euro 4,6 Mrd. Euro Frankreich
Gilead Sciences 27,5 Mrd. Euro 4,2 Mrd. Euro USA
GlaxoSmithKline 25,3 Mrd. Euro 3,9 Mrd. Euro GB
AbbVie 23,2 Mrd. Euro 3,8 Mrd. Euro USA
AstraZeneca 20,9 Mrd. Euro 5,1 Mrd. Euro GB/Schweden
Amgen 20,8 Mrd. Euro 3,5 Mrd. Euro USA

mySugr hat wertvolle Daten

Name des Kunden, E-Mail-Adresse, Alter, Geschlecht, Therapieziel (Sollwert, Zielwert, Bereich, Blutzuckerwert), Diabetestyp, Art der Therapie (Spritze oder Pumpe), Blutzuckerwert, Menge Insulin, Tabletten, Menge Essen (Kohlenhydrate/Broteinheiten), Aktivitäten (Dauer/Intensität), (temporäre) Basalrate (kontinuierlich verabreichte Insulindosis, Einheiten pro Zeiteinheit), Körpergewicht, Körpergröße – die Daten, die mySugr-Nutzer oft täglich mit der App (sie ist als Tagebuch für Diabetiker gestaltet und kann Daten von Messgeräten auch via Bluetooth empfangen) erfassen, sind umfangreich – und bedürfen spezieller Behandlung.

„Roche ist natürlich an den gesundheitlichen Erkenntnissen, die sich aus den Daten ableiten lassen, interessiert“, sagt mySugr-Mitgründer Gerald Stangl. „Wir bleiben jedoch unverändert als ein eigenständiges Unternehmen bestehen, unsere strengen Datenschutzbestimmungen bleiben in Kraft und alle Daten auf mySugr-Servern gesichert.“ mySugr nutzt dazu Amazon Web Services (AWS), Daten europäischer Nutzer werden in Rechenzentren am Alten Kontinent, Daten von US-Nutzern in den Vereinigten Staaten gespeichert.

Nutzer von mySugr stimmen den AGB zufolge auch zu, dass ihre Daten „verlässlich anonymisiert und zu Auswertungs- und/oder wissenschaftlichen Zwecken verarbeitet“ werden dürfen. „Wir analysieren anonymisierte Daten, um mit Forschungspartnern zusammenzuarbeiten, geben aber diese Daten niemals aus der Hand“, sagt Stangl. „Roche ist somit ein wichtiger Forschungspartner, mit dem wir gemeinsam publizieren werden. Roche arbeitet an einem Digital-Health-Ökosystem, zu dem auch Machine-Learning-Komponenten gehören. Wir werden es unseren Kunden freistellen, bei zukünftigen Features diese Komponenten von Roche zu nutzen.“ Das heißt: Wer seine Daten von einer Künstlichen Intelligenz des Schweizer Pharmakonzerns auswerten lassen möchte, könnte das bei mySugr einmal tun.

Versicherungen als Kunden

Die Daten allein sind aber nicht alles, was Roche von mySugr hat. Natürlich geht es auch um digitale Kundenbeziehungen, die über die App täglich gepflogen werden können, eine neue Firma, die die Software dazu skalierbar weiterentwickeln kann, und um neue Geschäftsmodellen. Die durchschnittlichen Kosten für Diabetiker liegen in Österreich pro Jahr bei etwa rund 3.500 (Typ-2-Diabetes) bzw. 5.000 Euro (Typ-1-Diabetes). Für Versicherungen sind Diabetiker unattraktive Kunden, doch mySugr will da eine Lösung gefunden haben.

In Deutschland übernehmen die Versicherungskammer Bayern und die Union Krankenversicherung für Kunden ein Jahr lang das mySugr-Paket (Apps plus Teststreifen plus Blutzuckermessgerät „Accu-Chek Guide“ von Roche) im Wert von rund 1.000 Euro. Für diese Privatversicherungen kann das spannend sein: Denn je besser die versicherten Diabetiker heute im Sinne der Vorsorge auf ihre Gesundheit achten, umso weniger Folgekosten müssen Versicherungen für sie später einmal tragen. Stangl: „Unser monetäres Ziel ist in erster Linie, die Kosten für Versicherungen zu senken und gleichzeitig die Lebensqualität für unsere User zu erhöhen.“

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