Nagarro über New Work: „Es geht viel mehr um die Arbeitnehmer:innen“
„Unser Büro war auch vor der Pandemie meistens nur am Freitag richtig voll“, erzählt Iris-Sabine Bergmann, Director of Employee Engagement bei Nagarro. Das Unternehmen bietet IT-Beratung und Softwareentwicklung für digitale und technologische Herausforderungen – und verfolgt einen ganz besonderen Ansatz: Ein Headquarter gibt es nicht, auch keine klassischen Führungskräfte, im Vordergrund stehen Vertrauen und Selbstbestimmung. „Work from anywhere“ nennt sich das Konzept, mit dem Nagarro übergangslos ins „new normal“ ging, wobei es bei Nagarro Österreich minimale geografische Grenzen gibt. Darüber hinaus machen zusätzliche Benefits den Arbeitsplatz – wo auch immer er sich befindet – attraktiv.
Arbeiten in ganz Österreich und Europa
Von vielen Mitarbeiter:innen und Jobsuchenden gewünscht: Freie Zeiteinteilung, keine Büroplicht, selbstbestimmtes Arbeiten und persönliche Weiterentwicklung. Auch die Bezahlung spielt eine Rolle, ist aber nicht alles, weiß Bergmann: „Qualifizierte IT-Jobs sind zweifelsfrei sehr gut bezahlt, aber es gibt logische Grenzen. Wir glauben, dass eine Neugestaltung der sozialen Ziele uns mehr bringt, um als Unternehmen die guten Köpfe auch halten zu können.“
Bei Nagarro wird darum auf neue Modelle gesetzt: „Unsere Mitarbeiter:innen waren immer schon viel vor Ort beim Kunden. Montag bis Donnerstag waren hauptsächlich die „Supporting Circles“, also Kolleg:innen aus Finance, Human Ressources, Marketing im Büro.“ Mittlerweile habe das Thema Home-Office aber für alle an Stellenwert gewonnen, meint Bergmann weiter. Bei Nagarro geht man darum einen Schritt weiter – Schlagwort „Work from anywhere“.
Nagarro: Das Büro als Ort der Begegnung
„Das Konzept ist ursprünglich aus Indien gekommen, weil man auch IT-Expert:innen anwerben wollte, die in weiterer Entfernung von den bestehenden Offices wohnen. Man hat dafür Hives an vielen Stellen eingerichtet, also kleine zusätzliche Büros, die Orte der sozialen Begegnung sind.“ Das Konzept sei „voll aufgegangen“, was hierzulange die HR-Teams auf eine neue Idee gebracht hat. „Wir bieten unseren Mitarbeiter:innen an, dass sie in Österreich von überall aus arbeiten können, ohne es uns vorab mitteilen zu müssen. Und das auch unbegrenzt.“
Wer im EU-Ausland arbeiten will, könne das für maximal 90 Tage. „Das müssen die Leute uns nur vorher sagen, aus versicherungsrechtlichen Gründen. In anderen Ländern ist es leider nicht so einfach wegen der vielen Formalitäten.“
Wohnen in Salzburg, Arbeitsplatz in Wien
Das Zuckerl hat positive Folgen – nicht nur für die Arbeitnehmer:innen. „Natürlich ist das ‚Work from anywhere‘-Prinzip auf der einen Seite ein Benefit, der in Bewerbungsgesprächen gut ankommt, es hilft uns aber auch, beispielsweise Leute aus Kärnten anzustellen oder Salzburg oder Tirol, wo der Arbeitsmarkt ein kleinerer ist. Generell eröffnet unsere Herangehensweise für Menschen die, aus welchen Gründen auch immer, nicht im Büro in Wien arbeiten können, eine neue Perspektive. Ein oder zweimal im Monat zu einem Kunden-Workshop zu kommen, ist dann für die meisten auch okay. So können wir Leute ansprechen, die sonst nicht den Weg zu uns gefunden hätten.“
Waren IT-Unternehmen hier Vorreiter? Iris-Sabine Bergmann verweist auf den in der Branche herrschenden Mangel an Fachkräften, der zu neuen Herangehensweise geführt habe, sieht aber auch etwaige Nachteile: „Man muss nicht im Büro sitzen, um an einem Projekt zu arbeiten und natürlich kann man Meetings online machen. Die Kehrseite ist, dass ganz viel Kultur verloren geht, dass dieses ‚voneinander lernen‘ so nicht stattfindet – und man keine unbewussten Begegnungen mit Mentor:innen im Unternehmen hat, vor allem die Jüngeren nicht. Da denke ich oft auch an meine Anfangszeiten im Arbeitsleben zurück: Ich habe mir so viel abgeschaut von Kolleg:innen – und wenn es nur so einfache Sachen waren wie das richtige Abheben am Telefon oder der Umgang mit Kolleg:innen. Das geht verloren und ich glaube, dass den Jüngeren gar nicht bewusst ist, dass ihnen da ein Lernfeld fehlt.“
Darum überlege man nun, einen Tag anzubieten, an dem sich alle freiwillig im Büro treffen. „Ganz einfach, weil wir das Bedürfnis haben, uns zu sehen, weil wir voneinander lernen und zusammen die Nagarro-Kultur spüren und leben wollen.“
People Partner statt Vorgesetzte
Diese Nagarro-Kultur zeigt sich auch in anderen Bereichen. Hierarchien gibt es keine: „Wir haben ja keine Führungskräfte, wir sind nicht hierarchisch“, erzählt Bergmann. „Wir haben in HR angesiedelte ‚People Partner‘, die ab dem Schalten der Anzeige für den Mitarbeiter, die Mitarbeiterin ganzheitlich verantwortlich sind. Das heißt, der Partner überlegt sich, wie wir jemanden bekommen, ist der Hauptrecruiter und sitzt dann zusammen mit einem Experten, einer Expertin in den Interviews. Er oder sie ist auch für das Onboarding verantwortlich. In der Regel ist man in der allerersten Woche gemeinsam im Büro, weil das die wichtigste Zeit für die neuen Mitarbeiter:innen ist, wo sie die meisten Fragen haben.
Das Ganze brauche freilich „eine gewisse Reife der Mitarbeiter:innen“, lächelt Bergmann, „und dafür ist es am besten, wenn man die Arbeitskultur am Anfang, in den ersten Tagen und Wochen gut vorlebt“. Negativbeispiele erinnere sie keine: „Ich glaube, das liegt auch daran, dass die Leute viel in Kundenprojekten sind und wenn der Kunde, die Kundin vorgibt, was gebraucht wird, funktioniert das gut. Was wir allerdings schon hatten, ist, dass Mitarbeiter:innen gegangen sind, weil sie sich zu wenig zugehörig gefühlt haben. Darum ist es wichtig, im Auge zu behalten, dass sich alle aufgehoben fühlen.“
Die eigene Geschichte ins Unternehmen tragen
Ein weiteres Schlagwort bei Nagarro: „Own your Story“. „Hier geht es darum, dass wir unsere Mitarbeiter:innen holistisch kennenlernen und auch ins Unternehmen integrieren wollen. Und dazu gehört natürlich auch der private Aspekt, etwa Hobbys oder Vorlieben. Wir finden es gut, wenn unsere Mitarbeiter Leidenschaft für etwas haben und versuchen, das dann auch ein bisschen mit in unseren Arbeitsalltag zu bringen.“
Vor der Pandemie habe es etwa „Jam Sessions“ gegeben, ein Frühstück, vom Unternehmen bezahlt, in dessen Rahmen Mitarbeiter:innen Themen präsentieren. „Da kann jemand, der Ersthelfer ist, einen Erste-Hilfe-Kurs anbieten. Wir hatten aber auch schon mal eine Delegation, die nach Indien geflogen ist und uns einen sehr guten Einblick in die Kultur und einen ausführlichen Reisebericht gegeben hat. Ein anderer Kollege wiederum war früher Koch, der hat dann mit Kolleg:innen während der Pandemie online internationale Gerichte gekocht.“
Zahlreiche Weiterentwicklungsmöglichkeiten bei Nagarro
Lässt sich also zumindest ein Teil der Unternehmenskultur auch online transferieren? Iris-Sabine Bergmann: „Ja, natürlich, das ist schon möglich. Wir merken aber, dass die Erreichbarkeit unsere Kolleginnen und Kollegen anders geworden ist als vorher. Da sind viele Leute, die sehr viel Zeit investieren und es ist schade, dass trotzdem ganz viel Kultur nicht weitergetragen wird und viel Information verloren geht.“
Dem wirkt Nagarro aktiv entgegen – mit neuen Initiativen: „Wir haben eine Learning- and Development-Initiative, die wir ‚The Growth Space‘ nennen, ins Leben gerufen“, erzählt Bergmann. „Unsere Mitarbeiter:innen haben eine Broschüre nach Hause geschickt bekommen mit dem gesamten Learning- und Development-Angebot. Es hat sich sehr viel getan in den letzten zwei Jahren und wir versuchen, die Leute über möglichst viele Kanäle darüber zu informieren. Zusätzlich haben wir eine Art Landkarte ausgearbeitet, die dabei hilft, zu sehen, wo man beruflich, aber auch privat steht. Wo sind meine Interessen, wohin möchte ich mich entwickeln? Ein Beispiel: Wenn jemand Interesse an einem Töpferkurs hat, dann ist das schön und gut, würde aber in diese Nagarro-Landkarte nicht passen. Wenn sich jemand als Trainer:in weiterentwickeln möchte, vielleicht privat an einer Fachhochschule unterrichtet, dann kann man das sehr wohl ganz gut verknüpfen. Und wenn jemand sagt, dass er oder sie vorhat, in zwei Jahren Familie zu gründen, dann ist das auch ein wichtiger Input, weil wir dann ganz anders planen und individueller auf sie oder ihn eingehen können.“
„Es geht um die Arbeitnehmer:innen“
Klingt alles nach einer Stärkung des Arbeitnehmermarktes. Wie sieht die HR-Chefin von Nagarro das? „Es geht wirklich viel mehr um Arbeitnehmer:innen. ‚Work from anywhere‘ ist ja auch entstanden aus der Überlegung, den Mitarbeiter:innen etwas anzubieten. Man kann den Leuten nicht sagen, dass sie ab morgen wieder alle ins Büro kommen müssen, das funktioniert so nicht. Wenn jemand nicht ins Büro möchte oder kann, aus welchen Gründen auch immer, dann hat man eine hybride Lösung zur Verfügung zu stellen. Natürlich müssen wir vieles neu denken, um diesen gesteigerten Anforderungen überhaupt gerecht zu werden.“
Zurückschauen bringt da nichts: „Eines ist fix: Es wird keinen Weg mehr zurück geben, weil erstens sieht man, dass es funktioniert. Und zweitens kann man den Leuten nicht etwas wieder wegnehmen, man kann nur etwas on top dazu zu geben.“