Gastbeitrag

Nicht die Zeitung deiner Oma

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Warum wir unseren Journalismus revolutionieren müssen und was wir alle dafür tun können.

Im Frühsommer 2018 saß ich in der Straßenbahn und habe ein Bankkonto eröffnet. Das Konto ist eine App. Es hat alles zusammen rund acht Minuten gedauert. Inklusive Beglaubigung meiner Identität. Die Kreditkarte kam nur wenige Tage später mit der Post. Keine Gebühren. Überweisungen in Echtzeit. Eine Benachrichtigung für jede Kontobewegung. Die Bank wirbt unter anderem mit dem Slogan „Nicht die Bank deiner 👵“ (Oma). Ich kann es nicht anders sagen. Mein neues N26 Konto macht mir Spaß. Es ist eine gänzlich andere und, ja, bessere Erfahrung eines Kontos.

N26 ist eine Bank wie es eine traditionelle Bank nie sein kann. Sie ist zu groß und zu alt dafür. Selbst wenn sie will, sie kann es nicht. Ein Konzern kann nicht so flexibel wie ein Start Up denken und handeln. Er ist gefangen in alten Strukturen, gebunden an Personal, beschäftigt mit bestehenden Geschäftstätigkeiten. Den Nutzen einer Bank für Konsumenten neu erfinden, das können wie in diesem Fall die zwei Wiener Valentin Stalf und Maximilian Tayenthal. Sie haben N26 2013 gegründet und derzeit laut eigenen Angaben rund eine Million Kunden. Es sind Unternehmer wie sie und eben nicht die Deutsche Bank.

VW hat auch nicht Tesla erfunden. CNN nicht Youtube. Time Warner nicht Netflix. Der Axel Springer Verlag oder ein anderer Medienkonzern wird unseren Journalismus nicht neu erfinden. Das müssen andere tun. Von null weg starten. Und zwar dringend.

Viele der Journalismus-Produkte auf die wir in Zukunft zählen werden, gibt es heute gar noch nicht. Wie es auch Tesla, Youtube und Netflix noch nicht lange gibt.

Was ist Journalismus?

Der Auftrag, professionell und verantwortungsvoll Information zu sammeln, zu bewerten, zu verifizieren. Um schließlich daraus Wissen zu generieren. Dieses Wissen dient uns Bürgern dann als Grundlage, fundierte Entscheidungen über unser Leben und Zusammenleben zu treffen. Wissen, das uns ermächtigt und ermöglicht, uns selbst zu regieren – wie das eine Demokratie voraussetzt.

Für viele von uns Bürgern, darunter auch Journalistinnen und Politiker, macht Journalismus wie wir ihn kennen, keinen oder nur mehr wenig Sinn. Es braucht daher komplett neue journalistische Organisationen und Produkte.

Die gute Nachricht

Es geht. Wir können unseren Journalismus, dessen Entstehung, Finanzierung, dessen Nutzung und Erfahrung, komplett neu denken und machen. Wie das in vielen Branchen, wie etwa im Banking bereits passiert.

Unsere Zeitschriftenverlage und Fernsehstationen werden das nicht tun. Sie können es nicht. Wie aber unsere alte Bank nicht gänzlich verschwinden wird, wird auch die Zeitung meiner 👵 in der ein oder anderen Form weiter bestehen. Und das ist gut so. Alles Folgende muss also als Ergänzung zu bestehenden Medien gelesen und verstanden werden. Als sowohl als auch, nicht als entweder oder.

Die Zeit in der wir leben

Eine vernetzte Highspeed-Welt. Informationsflut. Kampf um Aufmerksamkeit. Dominanz politischer Inszenierungen. Fake News. Hass und Hetze in sozialen Medien und darüber hinaus. Polarisierung in der Gesellschaft. Kaum funktionierende Debatten, kaum Kompromissfähigkeit unter uns Bürgern.

Begleitet von einer stetig sinkenden Glaubwürdigkeit in unseren konventionellen Journalismus. Oft ein Unverständnis unserer Journalisten für die Bedürfnisse der Bürger.

Klar ist: der Journalismus den wir kennen stammt aus einer anderen Zeit. Er holt viele von uns nicht mehr ab. Viele sind frustriert. Viele hat er bereits verloren.

Klar ist: unser Journalismus wird vor allem durch Werbung finanziert, und das funktioniert so nicht mehr. Das Geschäftsmodell ist nicht mehr gesichert. Jetzt, wo die demokratische Rolle von Journalismus so gefordert ist wie lange nicht, beschäftigt fast alle Medien der Kampf ums nackte Überleben.

Alles in allem eine höchst brisante Mischung widrigster Umstände.

Klar ist: Jetzt kommt es auf uns an. Es ist unsere Verantwortung als Bürger, guten Journalismus zu ermöglichen. Jetzt mehr denn je. Zu unserem eigenen Wohlbefinden. Es ist die Verantwortung der wenigen, Qualität für möglichst viele zu ermöglichen.

Was müssen wir uns von Journalismus erwarten können?

Er muss Journalisten und Bürgern Spaß machen. Er muss nach den höchsten journalistischen Standards streben, die wir je erlebt haben. Immer.

Eine Anleitung dafür haben die US-Amerikaner Bill Kovach und Tom Rosenstil in ihrem Buch „The Elements Of Journalism“ fulminant dargelegt. Es braucht Redaktionen, deren oberstes Ziel Vertrauen ist. Redaktionen die fähig zur Reflexion sind. Die Unabhängigkeit und Transparenz leben. Die digitale Möglichkeiten verstehen und umarmen.

Im Mittelpunkt muss die Beziehung zwischen Redaktion und Bürgern stehen. Eine Partnerschaft. Das heißt wohlgemerkt nicht, dass Journalisten uns Bürgern nach dem Mund schreiben, noch, dass sie uns nicht mit unbequemen Tatsachen konfrontieren. Ja im Gegenteil. Sie müssen uns ständig herausfordern.

Eine Zukunft des Journalismus:

Digital, fokussiert, dezentral. Von Bürgern getragen. Unabhängig von Werbung.

Das Spiel um Werbegelder und mit Daten ist eines, das lokale Medien nur verlieren können, gegen globale Multis wie Facebook, Google und Co. Die Finanzierung durch Werbung funktioniert für Journalismus schon länger nur mehr bedingt. Es war ohnehin nie eine Liebes- sondern immer eine schwierige Zweckbeziehung.

Ein alternativer Weg der Finanzierung ist der über Philantrophen. In Österreich gibt es etwa Addendum, bezahlt von Red Bull Gründer Dietrich Mateschitz. Dies bedeutet volle Abhängigkeit von einzelnen Personen und deren finanzieller und emotionaler Lage.

Die Finanzierung durch Gebühren oder Steuern wie beim Öffentlich-Rechtlichen Rundfunk ist verbunden mit einer hohen Abhängigkeit von und Einfluss durch herrschende politische Parteien.

Was bleibt ist eine große Chance: die direkte Finanzierung durch uns Bürger. Abos und Mitgliedsbeiträge (die wir bei Netflix oder Spotify schon zahlen) machen Journalismus-Organisationen unabhängig von Politik und dem Werbemarkt. Sie fördern die Beziehung zwischen Bürgern und Journalisten. Die Schweizer republik.ch ist ein erstes Beispiel dafür.

Es braucht keine Medienkonzerne für Journalismus

Keine großen zentral organisierten Verlagshäuser, Rundfunkanstalten und Medienkonzerne im Besitz ein paar weniger. Historisch gewachsene teure Strukturen, die süchtig sind nach dem einstigen Werbekuchen.

Es werden kleinere, eigenständige und digitale Redaktions-Organisationen entstehen, die in sich sehr effizient und aufs Wesentliche ausgerichtet sind: Journalismus. Auf Inhalte und Beziehungs-Management. Viele dieser Redaktionen werden mit anderen Redaktionen Netzwerke bilden und zusammen arbeiten.

Von uns getragen

Wir als direkte Auftraggeber und Adressaten von Journalisten. Eine Partnerschaft. Kein hierarchisches Verhältnis, sondern eine Begegnung auf Augenhöhe. Man sucht den Dialog, hört einander zu, arbeitet zusammen.

Nicht mehr alles für alle bieten

Stattdessen einiges für einige. Neue Redaktionen werden sich fokussieren müssen und sich gezielt um ein oder zwei der folgenden Bereiche gründen:

  1. Themen oder Gesetztes-Materien, z.B.: Sicherheit, Armut und Reichtum, Innenpolitik, Österreich und Europa, Deutschland in der Welt, Syrien und der Nahe Osten, etc.
  2. Regionen, z.B.: Städte, Bundesländer, Grenzgebiete, Täler, Sprachzonen, kulturelle Zonen
  3. Werte-Gemeinschaften und Ethnien, z.B.: christlich, progressiv, bürgerlich, weltoffen, konservativ etc.
  4. Formate: z.B.: Investigation, Kuration, Vermittlung/Erklärung, Kontrolle, Vergleich

Wie starten wir diese Revolution?

Je nach Bereichen funktionieren Redaktionen in Teams von fünf bis fünfundzwanzig Personen und mehr. Die primären Kosten sind Personalkosten. Dafür braucht es eine Gruppe in der Größe von 10 000 bis 50 000 Bürgern, von denen jeder einzelne einen Betrag zwischen €7 bis 14€ im Monat zahlt. Ein Preis von zwei Cappucino bis eineinhalb Kinokarten pro Monat, der damit eine Redaktion relevanter Größe ermöglicht – und eine neue tragende Säule unserer Demokratie.

Die Kunst wird es sein, kritisch große Gruppen in der Gesellschaft zu identifizieren und zu erreichen bzw. uns ein überzeugendes, glaubwürdiges und wertstiftendes Produkt zu liefern. Laufend.

Zu verstehen ist diese als eine komplett neue ergänzende journalistische Infrastruktur mit neuen journalistischen Methoden. Eine neue Kultur. Hundertschaften zusätzlicher Journalisten verteilt auf eine Vielzahl zu gründender Redaktionsorganisationen und hundertausenden involvierten Bürgern.

Wir brauchen also

• unternehmerische Redakteure und Reporter, Designer,  Community Developer, Programmierer, Organisations-Entwickler, Product Manager, Kampagnen-Leiter. Sie müssen sich zusammen tun und einer spezifischen Gruppe in der Gesellschaft ein Angebot machen.

• uns Bürger, die erstere mittels Wille, Geduld, Geld und Teilhabe unterstützen.

• wirkungsorientierte und demokratie-affine Investoren, um die Startup-Phase zu finanzieren, bis Redaktionen ausreichend Mitglieder haben, um sich selbst zu tragen und profitabel zu sein. Im Idealfall tun sich viele solcher Investoren zu einer gemeinnützigen Stiftung zusammen, um im großen Stil die Gründung einer Vielzahl neuer Redaktionen anzustoßen und zu ermöglichen.

Wenn unser Journalismus versagt, versagen wir als Bürger

Damit sind wir alle gemeint. Also müssen wir uns mit unternehmerischen Journalisten verbünden und gemeinsam neue Journalismus-Organisationen gründen – ein neues lässiges Bankkonto ist damit verglichen irrelevant. Uns fehlen die wesentlichen Grundlagen und das Wissen, um liberale Demokratie, individuelle Freiheit und ein friedliches Zusammenleben zu garantieren.

Es liegt an uns.


Milo Tesselaar war Mitgründer und Chefredakteur von Biorama, fungierte 2016 als Kampagnenleiter von Irmgard Griss, engagierte sich beim Europäischen Forum Alpbach für das Innovationslabor „Re:think Austria“ und will den Journalismus revolutionieren. Dieser Text erschien ursprünglich auf www.milotesselaar.com.

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