Obdach: Eine steirische Gemeinde als Spiegel für Österreichs Bodenproblem
Es ist eine kleine, unscheinbare Gemeinde mitten in den Seetaler Alpen: Obdach. Einige kennen vielleicht das Ortsschild vom Durchfahren – immerhin zählt die B78, die sich neben der Gemeinde durch das Tal schlängelt, als beliebte Route in den Süden Österreichs. Knapp einen Kilometer vor der Kärntner Grenze gelegen, zählt Obdach gerade noch zur Steiermark. Bis zur nächsten größeren Stadt, Judenburg, fährt man rund 20 Minuten mit dem Auto. 2021 zählt die Marktgemeinde rund 3700 Einwohner:innen und einen eigenen Schilift.
Im Tal zwischen dem knapp 2.400 Meter hohen Zirbitzkogel und dem etwa 2.200 Meter hohen Größing reihen sich die pastellfarbenen Markthäuser aneinander. Unter anderem auch die beiden Supermärkte der Gemeinde: Billa und Spar. Sie bekommen nun Konkurrenz. Nur 500 Meter entfernt vom ursprünglichen Standort im historischen Ortskern baut die Rewe-Group eine neue Billa Filiale. 600 Quadratmeter Verkaufsfläche und 50 Parkplätze sind geplant.
Bei vielen Obdacher:innen stößt der Vorstoß auf Kopfschütteln. Immerhin sei ein Ausbau des alten Standorts sehr wohl möglich gewesen, erklärt Bürgermeister Peter Bacher: „Es gab einen Plan, wie wir die Verkaufsfläche im alten Gebäude ermöglicht hätten. Immerhin gibt es dort Reserveflächen. Wir haben sogar ein Parkplatzkonzept vorgestellt, bei dem wir den Ort extra umgebaut hätten.“ Der Rewe-Group reichte das nicht. Gäbe es keine 50 bis 60 Parkplätze für die Billafiliale, werde man nicht investieren, ließ man den Bürgermeister wissen. Bacher befand sich damit in einer Zwickmühle: „Es stand die Drohung im Raum, dass der Billa wegzieht, wenn Rewe nicht neu bauen darf.“
Dieses Problem kennen viele Bürgermeister:innen in Österreich: Sie müssen sich regelmäßig zwischen dem wirtschaftlichen Wohlstand ihrer Gemeinde und dem Versiegeln von wertvollen Bodenflächen entscheiden. Vor zwei Wochen kam die Debatte durch das ORF-Sommergespräch mit der Neos-Obfrau Beate Meinl-Reisinger wieder ins Rollen. Dabei macht die Datenlage bereits seit langem deutlich, dass das Thema Priorität haben sollte.
Bodenverbrauch in Zahlen
„Es ist ganz klar, dass wir viel zu viel Boden verbrauchen. Es ist uns nicht gelungen, das auf ein vernünftiges Maß zu reduzieren“, fasst Arthur Kanonier, Professor für Boden- und Raumplanungspolitik an der TU Wien, das Problem zusammen. Laut Umweltbundesamt gingen in Österreich im Durchschnitt der letzten drei Jahre täglich 11,5 ha (= 16 Fußballfelder) Boden durch Bauprojekte verloren. Alleine im Jahr 2020 wurden rund 39 Quadratkilometer verbaut. Das ist in etwa eine Fläche so groß wie Eisenstadt.
Am meisten Boden verbrauchten im Zeitraum von 2013 bis 2020 gemäß Umweltbundesamt Betriebsflächen, Wohn- und Geschäftsgebiete. Auch der Straßenbau schlug 2020 mit etwa 5,5 Quadratkilometer zu Buche. „Der Wohnungsbau ist ein starker Treiber. Raumplanerisch besonders schmerzhaft sind dabei Zweitwohnsitze an Orten mit knappem Dauersiedlungsraum wie etwa im alpinen Bereich“, sagt Raumplaner Kanonier. Eine weitere unangenehme Entwicklung sei, dass Nahversorger wie aktuell in Obdach Standorte in den Ortskernen aufgeben und an Ortseinfahrten ziehen: „Das ist raumplanerisch denkbar schlecht, weil es die ganze Kaufkraft nach außen zieht und immer mehr Boden dadurch versiegelt wird. Es ist wirklich bedauerlich, dass das in manchen Gemeinden noch immer passiert“, so Kanonier.
Knapper Raum mit Klimaschutzfunktion
Dabei ist Boden in Österreich grundsätzlich schon ein knappes Gut: Immerhin ist die Alpenrepublik zu 70% mit Bergen bedeckt. Durch die Berge können weite Flächen nicht genutzt werden, erklärt Martin Gerzabek, Professor für Bodenforschung an der Universität für Bodenkultur in Wien: „Die Tallagen werden für die Landwirtschaft, fürs Wohnen, die Verkehrsinfrastruktur, die Industrie und das Gewerbe gebraucht. Da spielt sich sehr viel auf einer kleinen Fläche ab.“ Dadurch entstehe eine Konkurrenzsituation: Pro Person gäbe es in Österreich etwa nur 1500 m2 Ackerfläche. Gerzabek warnt: „Im internationalen Vergleich ist es durchschnittlich doppelt so viel. Wir sind kaum in der Lage, uns selbst zu ernähren. In einigen Bereichen sind wir sogar weit davon entfernt.“
Neben der wichtigen Funktion für die Landwirtschaft sei der Boden auch für den Wasserkreislauf von enormer Bedeutung, sagt der Bodenforscher: „Haben wir nicht ausreichend unversiegelten Boden, kann er das Wasser bei Starkregenereignissen nicht aufnehmen. Es kommt dadurch rasch zu Hochwasser und Schäden an Leib und Leben.“ Auch bei der Speicherung von CO2 spielt der Boden eine große Rolle: Weltweit haben Böden mehr als die doppelte Menge an Kohlenstoff gespeichert, wie sie sich in der Atmosphäre befindet, erklärt Gerzabek: „Der Boden hat große Auswirkungen auf das Klima. Je mehr Fläche wir versiegeln, desto geringer ist seine Leistung.“
Politisches Verantwortungskarussell
Der Politik ist das Problem bewusst: Bis 2030 plant Türkis-Grün laut Regierungsprogramm die tägliche Bodenversieglung von 15 bis 20 auf neun Quadratkilometer netto pro Jahr zu senken. Wie das genau gelingen soll, sei bisher aber unklar, kritisiert Michael Bernhard, Umweltsprecher von den Neos: „Die Politik muss die Themen Flächenverbrauch und Bodenschutz ernst nehmen. Es braucht einen Fahrplan mit verbindlichen Zielen.“
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Großen Aufholbedarf sieht Bernhard bei der Frage, wer darüber entscheiden kann, wo gebaut wird: „Bisher lag die Widmungskompetenz von Bauland bei den Gemeinden, die Raumordnung ist Ländersache. Die Bundesebene spielt keine Rolle.“ Dadurch würden Bauentscheidungen in Gemeinden nicht selten auf Basis von „Freunderlwirtschaft“ getroffen und die Zersiedelung vorangetrieben werden. Außerdem könnten Betriebe Bürgermeister:innen mit der drohenden Abwanderung unter Druck setzen. Bernhard verlangt deshalb: „Es braucht eine überregionale Planung, im Idealfall auf Landesebene, der Bund gibt aber den Rahmen vor. Die Gemeinden sollen dabei ganz stark eingebunden werden. Die letzte Entscheidung soll aber das Land treffen.“
Gemischte Meinung
Dieser Vorschlag stößt in der steirischen Landesregierung auf Unverständnis. Die Leiterin für das Referat Bau- und Raumordnung, Andrea Teschinegg, etwa hält das Modell der Neos für wenig praktikabel: „Ich habe keine Ahnung, wie eine Verschiebung der Raumplanungskompetenz verwaltungstechnisch klappen soll. Die Ressourcen dafür gibt es in keiner Weise. Wie soll Raumplanung bitte sinnvoll außerhalb von Gemeinden funktionieren?“
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Raumplaner Kanonier hingegen kann der Idee einer Kompetenzverlagerung sehr wohl etwas abgewinnen: „Die Gemeinden sind in vielen Fragen überfordert, weil das Abwägen von unterschiedlichen Interessen schwierig ist.“ Eine überregionale Raumplanung könne dieses Dilemma eventuell lösen.
Grüner Billa statt grüne Wiese
Im Fall vom neuen Billa in Obdach kommt die Debatte zu spät. Anstatt eines nachhaltigen Umbaus des alten Standorts hat sich die Rewe-Group mit der Gemeinde nun darauf geeinigt, neu zu bauen. Als Kompromiss hat sich der Konzern dazu verpflichtet, am alten Standort für drei weitere Jahre Drogerieartikel und trockene Lebensmittel anzubieten. Die Sinnhaftigkeit dieser Lösung sei dahingestellt. Bürgermeister Bacher hätte sich jedenfalls Unterstützung von Landesebene gewünscht: „Die Neos haben in dieser Debatte Recht – Firmen üben Druck auf Gemeinden aus. Wenn es Leerstände im Ort gibt, dann sollte das Land sich dafür einsetzen, dass die auch genutzt werden.“ Da ein Umbau von Altbeständen für die Betriebe teurer sei als ein Neubau, hält Bacher Förderungen für die Übernahme von bestehender Bausubstanz für sinnvoll.
Die Rewe-Group äußerte sich auf Anfrage von Tech & Nature zu den Vorwürfen, Druck auf den Gemeinderat ausgeübt zu haben, nicht. Stattdessen betonte die Pressestelle, wie wichtig dem Unternehmen „Energieeffizienz und Umweltfreundlichkeit beim Betrieb jedes neuen Standorts“ sei. Die von der Pressestelle geschönte Variante lautet also: Grüner Billa statt grüne Wiese.