Pop-up in Wien: Geniales „Prototyping“ oder nicht nachhaltig?
Pop-up-Radwege spalten die Geister: Die einen sehen sie als geniales Konzept, um schnelle Maßnahmen für urbane Mobilität zu setzen, die anderen sehen darin bloße Wahlkampf-Taktik. Sara Grasel und Jakob Steinschaden von T&N sind ebenfalls geteilter Meinung.
Pro: Pop-ups sind das MVP der Stadtpolitik
Was tun Startups, wenn sie ihre Idee testen wollen? Sie entwickeln so rasch wie möglich einen einfachen Prototypen, ein “minimum viable product” (MVP) und testen sie mit Nutzern: Ist die Idee gut, wie kommt die Umsetzung an und was müsste man ändern oder anpassen? Das garantiert schnelles Feedback und verkürzt Irrwege. Dass dieses Modell auch in der Stadtplanung funktionieren kann, ist erwiesen.
Dazu muss man gar nicht erst in andere Städte oder gar Länder schauen – Pop-up-Radwege gab es in der Zeit des Corona-Lockdowns auch in anderen Städten, mit wesentlich weniger Gegenwind. Auch in Wien war so manches heute selbstverständliche Verkehrsprojekt ursprünglich nur ein Testlauf. Was wäre zum Beispiel die Innenstadt ohne ihre Fußgängerzonen? Angefangen hat das 1971 mit einem temporären Versuch am Graben. Diese erste Fußgängerzone Wiens war so beliebt, dass sie nicht nur bleiben durfte, sondern bekanntermaßen viele weitere inspirierte.
Vom “MVP” zur dauerhaften Umgestaltung vergingen damals übrigens fast vier Jahre. Der “Weihnachtskorso”, wie die Pop-up-Fußgängerzone am Graben hieß, wurde sogar von Messungen zu Lärm und Luftqualität begleitet. Und auch Hebein verlässt sich bei den Pop-up-Radwegen nicht auf ihr Gefühl: Die Boku hat die Nutzungsfrequenz der temporären Radstreifen analysiert. Viele Startups würden das wohl als gute Grundlage für die Entscheidung zur Fortführung eines Projektes bezeichnen.
Sara Grasel
Contra: Pop-up ist das Gegenteil von Nachhaltigkeit
Ok, am Anfang war es eine witzige Idee, aber nach dem dritten Pop-up-Radweg ist es dann fad geworden. Mit temporären Fahrradspuren mehr Platz für Drahtesel in Wien zu schaffen, ist sicher eine gute Idee, auch wenn nicht Corona wäre. Denn attraktiv wird das Fahrradfahren als Alternative zum Auto auch dann, wenn es die passenden Wege durch den Großstadtdschungel gibt, auf denen man schnell vorankommt. Corona ist da als hilfreicher Katalysator (so viele Fahrräder wie 2020 wurden selten verkauft).
Nun aber im Wien-Wahlkampf überall zeitweise, medienwirksam und unter Geschrei der Opposition Pop-up-Bikelines und Pop-up-Schwimmbecken hinzustellen, ist das Gegenteil von Nachhaltigkeit. Kaum hat man sich an die neuen Fahrradspuren gewöhnt, muss man schon wieder darum bangen, dass sie überhaupt verlängert werden.
Wenn der Wahlkampf dann vorbei ist, wird von Pop-up nichts mehr als eine blasse Erinnerung an einen außergewöhnlichen Sommer 2020 übrig bleiben. Nachhaltige Stadtpolitik im Sinne einer intelligenten urbanen Mobilität wäre, wenn man keinen Extra-Cocktail aus Corona, Klimakrise und Wahlkampf bräuchte, um mehr Radwege einzurichten, und zwar dauerhaft. Naja, vielleicht dann 2021.
Jakob Steinschaden