Robotik-Therapie: tech2people eröffnet Neuro-Therapiezentrum in Wien
Das neue Therapiezentrum von tech2people in der Seestadt soll in vielerlei Hinsicht neue Maßstäbe in der österreichischen Physiotherapie- und Rehabilitationswelt setzen. Ab Anfang November sind dort nämlich mehr als 20 hochmoderne robotische Geräte im Gesamtwert von rund 1,5 Millionen Euro in Betrieb, betreut von einem Team aus neun Physiotherapeut:innen. Gemeinsam behandeln sie Schlaganfälle, Multipler Sklerose und Querschnittslähmungen mit ambulanten Therapien. Dabei verspricht das Zentrum erschwingliche Kosten, außerdem soll ein stationärer Aufenthalt nicht erforderlich sein.
Am Mittwoch fand zur Eröffnung des Zentrums eine Pressekonferenz mit Gregor Demblin, Mitgründer von tech2people, Hannes Kinigadner, überzeugter Patient, Peter Eichler, Vorstandsmitglied von UNIQA Österreich und Peter Lackner, Abteilungsleiter der Neurologie am Klinikum Floridsdorf, statt.
26.000 mögliche neue Schlaganfallpatient:innen
In Europa leben derzeit 520.000 Personen mit Multipler Sklerose. Es treten jährlich 12.000 neue Fälle auf. In Österreich sind etwa 50.000 Menschen auf einen Rollstuhl angewiesen, wovon rund 4.000 aufgrund einer Rückenmarksverletzung betroffen sind. Des Weiteren erleiden 9,53 Millionen Menschen in Europa einen Schlaganfall, mit einer jährlichen Zunahme von einer Million neuen Erkrankungen. Der Schlaganfall zählt zu den dritthäufigsten Todesursachen insgesamt.
“In Österreich liegt die Größenordnung bei etwa 26.000 neuen Schlaganfallpatient:innen pro Jahr. Es ist wahrscheinlich, dass sich diese Zahl in den kommenden Jahren nicht signifikant verringern wird, im Gegenteil, sie könnte sogar steigen. Wir erwarten zwar Verbesserungen in der primären und sekundären Prävention, aber aufgrund der alternden Bevölkerung wird die Häufigkeit von Schlaganfällen tendenziell zunehmen“, so Peter Lackner, Abteilungsleiter der Neurologie am Klinikum Floridsdorf, bei der Pressekonferenz.
Nach fast 25 Jahren im Rollstuhl wieder aufrecht gehen
Das neue Therapiezentrum von tech2people möchte die „optimale Behandlung“ für alle Arten von neurologischen Krankheiten anbieten, einschließlich Schlaganfall, Multiple Sklerose und traumatische Querschnittslähmung. tech2people, wurde 2018 von Gregor Demblin gegründet, der selbst seit 1995 querschnittgelähmt ist. Demblin konnte 2017 mit einem Exoskelett aus Deutschland nach fast 25 Jahren im Rollstuhl wieder aufrecht gehen.
„2017 war ein sehr prägendes Erlebnis, weil ich zum ersten Mal ein Exoskelett ausprobiert habe. Es war unglaublich anstrengend, aber es fühlte sich großartig an. Ich habe mir sofort danach gedacht, dass ich das regelmäßig machen muss. Das habe ich dann auch umgesetzt und gemerkt, wie meine Gesundheit davon profitiert hat. Mir wurde schnell klar, dass ich es auch anderen Menschen ermöglichen sollte, diese wunderbare Erfahrung zu machen“, so der tech2people-Founder.
In Zusammenarbeit mit Michael Seitlinger und Dennis Veit kam es dann nach und nach zum Aufbau von tech2people, dem ersten ambulanten robotikgestützten Neuro-Therapiezentrum in Österreich. Durch Unterstützung von Sponsoren ermöglichen sie Patient:innen nun den Zugang zur ambulanten Physiotherapie zu einem Stundenpreis.
In einer Stunde etwa 1500 bis 1800 Schritte
„Mit einem Exoskelett können in etwa einer Stunde etwa 1.500 bis 1.800 Schritte gemacht werden. Wir behandeln hier Patient:innen mit Schlaganfällen, Rückenmarksverletzungen, Multipler Sklerose oder Schädel-Hirn-Traumata. Die Qualität der Therapie ist entscheidend dafür, ob ich als Mensch die Möglichkeit habe, wieder zu gehen, ob ich die Chance habe, wieder berufstätig zu sein, wie selbstständig ich bin und ob ich weiterhin zu Hause leben kann. Letztendlich beeinflusst dies auch meine Lebenserwartung. Wir setzen daher stark auf robotische Therapie“, so Demblin.
Robotische Therapien haben dem Gründer zufolge enorme Vorteile. „Sie ermöglichen die Simulation von Bewegungen, die in einer manuellen Therapie nicht realisierbar wären, wie das Gehen oder Greifen mit meinen Beinen beispielsweise. Zudem ermöglichen sie ein extrem effizientes Training aufgrund der wesentlich höheren Wiederholungsrate. In einer herkömmlichen Therapie mit manueller Unterstützung erreicht man wahrscheinlich in einer Stunde oder sogar in einigen Jahren, abhängig von der eigenen Fitness, zwischen 30 und 50 Schritten.“
Robotische Therapie verdoppelt die Chance, nach Schlaganfällen wieder gehen zu können
Das Zentrum bietet für Patient:innen neben dem Exoskelett aber auch andere Geräte. Dazu gehört der Lokomat, eines der am meisten etablierten und am besten erforschten Robotik-Systeme in der neurologischen Therapie, das mittlerweile zum Standard in der modernen Neurorehabilitation gehört.
„Es gibt Bereiche, in denen die robotische Physiotherapie bereits umfassend erforscht und nachgewiesen ist. Zum Beispiel ist die Studienlage in Bezug auf Schlaganfallpatient:innen sehr solide. Es gibt klare Belege dafür, dass Schlaganfallpatient:innen, die robotikgestützte Gangtherapie in Kombination mit klassischer Physiotherapie erhalten, etwa doppelt so hohe Chancen haben, wieder gehen zu können“, sagte Peter Lackner, Facharzt für Neurologie, der als führender medizinischer Berater für das neue Zentrum fungiert.
UNIQA als Unterstützer und Sponsor
Peter Eichler, Vorstand für Personenversicherung bei der UNIQA Insurance Group AG, betont: „Wir haben eindrucksvoll erlebt und gehört, welch transformative Wirkung dieses Zentrum entfalten kann. Es vermag Menschen, die vom Schicksal hart getroffen wurden, ein Stück Autonomie zurückzugeben, ihre Selbstbestimmung zu stärken, ihnen bessere Therapiemöglichkeiten zu bieten und die Lebenserwartung zu erhöhen. Kurz gesagt, es bietet die Aussicht auf ein besseres Leben. Wenn Sie auf unser Motto oder unsere Vision schauen, ‚Gemeinsam besser leben‘, so sollten alle unsere Aktivitäten diesem Prinzip untergeordnet sein, ebenso wie die Förderbemühungen der UNIQA-Privatstiftung und der UNIQA-Versicherungen.“
Auch Hannes Kinigadner kam bei der Konferenz zur Eröffnung zu Wort. Er hatte 2002 einen Unfall und trainiert nun selbst mit dem Exoskelett. Er weiß aus eigener Erfahrung: „Wenn man in solch eine unglückliche Situation gerät, benötigt man jegliche Unterstützung, die man bekommen kann – sei es persönliche oder technische Hilfe. Es ist von großer Bedeutung, dass wir als Gesellschaft unser erworbenes technologisches Wissen einsetzen, um Betroffenen ihre Autonomie zurückzugeben.“
„Lückenlose neurologische Rehabilitation von entscheidender Bedeutung“
Lackner zufolge verfügt Österreich über eine herausragende stationäre Akut-Rehabilitation. Dennoch steigt der Bedarf an ambulanter Rehabilitation rasant an. „Die Vorteile sind offensichtlich: Weniger stationäre Aufenthalte, eine effektivere Behandlung für die Patient:innen und eine kosteneffizientere Alternative für die öffentliche Hand.“ Nach schweren neurologischen Erkrankungen sei eine lückenlose neurologische Rehabilitation von entscheidender Bedeutung. Diese Möglichkeit sei im stationären Bereich in Österreich grundsätzlich gegeben. In der Regel erhalten Patient:innen nach einem Aufenthalt in einer Akutklinik einen Rehabilitationsplatz in Österreich.
Dennoch endet die stationäre Rehabilitation in der Regel nach ein bis zwei Monaten. Die Neuroplastizität, also die Mechanismen, die genutzt werden können, um verlorene Funktionen nach einem Schlaganfall wiederzuerlernen, erstreckt sich jedoch über einen Zeitraum von einem halben Jahr bis hin zu zwei Jahren. In dieser Zeit besteht die Möglichkeit, weitere Fortschritte bei den verlorenen Funktionen zu erzielen. Daher sei es besonders wichtig, zusätzliche ambulante rehabilitative Angebote zu ermöglichen und eine lückenlose Therapie für die Patient:innen sicherzustellen.
Kosten bei 135 Euro wegen Sponsoren
Um möglichst vielen Menschen dieses Therapieangebot zugänglich zu machen, ist derzeit die Unterstützung von zahlreichen Sponsoren von großer Bedeutung, die diese Angebote erst ermöglichen. „Dank unserer Sponsoren kostet diese Therapieform nur 135 Euro, von denen weitere 55 Euro von der Krankenkasse erstattet werden. Wenn ich dieselbe Therapie in den USA durchführen möchte, kostet sie das Dreifache“, erklärt Demblin.
Ein weiterer wichtiger Aspekt, der dem Gründer am Herzen lag, ist die Tatsache, dass er und sein Team bewusst kein klinisches Umfeld geschaffen haben, wie es in der Regel für Therapien üblich ist. In solchen Umgebungen habe man oft das Gefühl, seine Selbstbestimmtheit zu verlieren. „Hier legen wir Wert auf eine angenehme Atmosphäre, die sich eher mit einem Wellness- oder Fitnesscenter vergleichen lässt. Die Patient:innen, die bereits bei uns waren, haben dies äußerst positiv aufgenommen und fühlen sich hier sehr wohl.“
Mögliche Zukunft: Exoskelette statt Rollstühle
Abschließend sagte Gregor Demblin: „Unser Ziel ist es, hier in der Ausbauphase 500 Patient:innen pro Jahr zu behandeln. Das sind 500 Schicksale, die im Idealfall ein besseres Leben haben werden. Das zweite Ziel ist es, die Technologie voranzutreiben. Wir sind wahrscheinlich weltweit die einzige Einrichtung, die Herstellern die Möglichkeit bietet, ihre Geräte als Prototypen zu testen. Das ist etwas, was wir in Zukunft ausbauen möchten. Und meine Hoffnung ist, dass wir irgendwann einmal Exoskelette anstelle von Rollstühlen sehen werden, und das Bild von begrenzten Therapiemöglichkeiten verschwindet.“
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