So revolutionieren europäische Startups die Arbeitswelt
Die europäische Startup-Welt katapultierte sich in den vergangenen Jahren immer wieder zu neuen Höhen. Ständig schießen innovative Jungfirmen aus dem Boden und immer mehr Scale-ups erreichen den begehrten Unicorn-Status. Es scheint sie nichts aufhalten zu können. Nichts, außer einem eklatanten Mangel an Fachkräften. Dieser zeigt sich nicht nur in Österreich, sondern in ganz Europa. Talente sind deshalb heiß begehrt und Startups müssen ihnen etwas Besonderes bieten können, um den Wettbewerb um sie zu gewinnen. Das hat einen spannenden Nebeneffekt: Europas Jungfirmen brechen immer öfter aus altbewährten Arbeitsmodellen aus und zeigen die mögliche Zukunft der Arbeitswelt. Hier sind einige Beispiele dafür.
Die Vier-Tage-Woche: Mehr Leistung durch mehr Freizeit
Eines der spannendsten, aber auch umstrittensten Konzepte der Arbeitswelt ist die Vier-Tage-Woche. Viele Arbeitnehmer:innen und auch einige Unternehmen wollen eine Verkürzung der Arbeitswoche. Dadurch soll sich die immer wichtiger werdende Work-Life-Balance beim Personal verbessern. In der Praxis hat die isländische Regierung im Jahr 2015 und im Jahr 2017 das Konzept getestet. Dabei ergab sich, dass die Produktivität bei der kürzeren Woche gleich blieb und sich teilweise sogar erhöht hat. Außerdem stieg das Wohlbefinden der Arbeitenden dadurch immens. Natürlich gibt es auch Bereiche, in denen die Vier-Tage-Woche nicht gleich gut funktionieren kann, doch für einige Startups hat es sich als genau das Richtige herausgestellt.
Ein Beispiel dafür ist die Wiener Video-Karriereplattform whatchado. Sie hat mit 1. Jänner 2022 für alle Mitarbeiter:innen die Vier-Tage-Woche mit 32 Stunden bei vollem Gehalt eingeführt. „Begonnen hat bei uns alles mit den Erfahrungen aus dem Beginn der COVID-19-Pandemie. 2020 war unsere gesamte Organisation einige Wochen in Kurzarbeit, inklusive unseres Managements und der Geschäftsführung. In diesen Tagen hatten wir unsere Arbeitszeit auf zehn bis vierzig Prozent reduziert. Schnell stellten wir fest, dass hohe Motivation, fortschrittliche Projektorganisation und reibungslose Zusammenarbeit unseren Erfolg begründen – und nicht die 40-Stunden-Woche“, erklärt Vincent Amadeus Christa, Digital Marketing Manager bei whatchado.
HR-Profis setzen auf Vier-Tage-Woche
Mit dieser Ansicht steht whatchado nicht alleine. Auch das Linzer HR-Startup TeamEcho hat bereits im vergangenen Oktober eine Vier-Tage-Woche mit 35 Stunden zum Standard gemacht – ebenfalls bei vollem Gehalt. “Wenn man als schnell wachsendes Startup die besten Talente anziehen und nachhaltig ans Unternehmen binden möchte, muss man einfach ein attraktives Arbeitsumfeld bieten”, sagt Marlene Fleischanderl, People- & Culture-Managerin bei TeamEcho.
Sowohl whatchado als auch TeamEcho wollen laufend Analysen über die Produktivität und das Wohlbefinden des Personals durchführen, um die Effekte der Vier-Tage-Woche zu testen. Bemerkenswert ist, dass es sich hier um zwei Startups handelt, die auf die Arbeitswelt fokussiert sind und echte HR-Profis sind. Daran zeigt sich, dass die Vier-Tage-Woche in vielen Sektoren wirklich die Zukunft sein kann.
whatchado steigert Effizienz und startet in die 4-Tage-Woche
Unbegrenzter Urlaub: „Flexibilität an erster Stelle“
Das Konzept klingt eigentlich nach Fantasie: Mitarbeiter:innen unbegrenzten und gleichzeitig voll bezahlten Urlaubsanspruch geben. Bedeutet: Man hat nicht mehr fixe 25 Urlaubstage pro Jahr, sondern kann sich Urlaub nach besten Wissen und Gewissen nehmen. Für europäische Unternehmen scheinbar undenkbar, in den USA aber im Tech-Bereich bereits ein fixer Trend. Bei Netflix etwa gehört diese Urlaubsregel schon seit längerem zur Arbeitskultur.
Nun hat mit Bitpanda das erste Unicorn Österreichs den Schritt zu diesem modernen Urlaubsmodell gewagt. Ab dem 1. April sollen alle etwa 1.000 Mitarbeiter:innen des Fintechs unbegrenzten und gleichzeitig voll bezahlten Urlaubsanspruch erhalten. „Wir wollen, dass Bitpanda der Ort ist, der Mitarbeiter:innen alles bietet, was sie brauchen, um professionell sowie persönlich zu wachsen. Mit unserem neuen Ansatz ‚Flexibilität an erster Stelle‘ stellen wir sicher, dass alle die Möglichkeit bekommen, sich nach arbeitsreichen Zeiten eine Auszeit zu nehmen und auch jene Unterstützung bekommen, um das Beste zu geben“, so Bitpanda-Mitgründer Eric Demuth.
Der unbegrenzte Urlaub ist bei Startups zwar noch nicht sehr weit verbreitet, doch es gibt schon einige andere Beispiele dafür. So hat das Hamburger Meinungsforschungsstartup Appinio diese Regelung bereits im vergangenen Jahr eingeführt. „Das ist es, was ich gerne von meinem ehemaligen Arbeitgeber bekommen hätte“, schrieb Gründer Jonathan Kurfess auf LinkedIn dazu.
Anstellung von Nicht-Akademiker:innen: Fokus auf „Growth Mindset“
Mehr Flexibilität könnte die Startup-Welt in Zukunft auch beim Recruiting zeigen und beim Bewerbungsprozess aus alten Mustern herausbrechen. Denn Europas wertvollstes, nicht börsennotiertes Jungunternehmen Klarna legt bei Neuzugängen künftig weniger Wert auf akademische Abschlüsse und vorherige Berufserfahrung. Viel wichtiger sei das „Growth Mindset“ – also der Wille und die Fähigkeit, sich Job-Skills durch internes Lernen und Anstrengung anzueignen (Trending Topics berichtete).
Klarna stützt sich mit dieser Maßnahme auf Studien, die zeigen würden, dass 89 Prozent der Fehlschläge bei Neueinstellungen auf Probleme der Überzeugung und Mentalität zurückzuführen sind. Genau diese sollen in Zukunft im Fokus stehen, unabhängig von der vorherigen Erfahrung im akademischen oder praktischen Bereich. Zuerst geht es um Jobs in der Serviceabteilung von Klarna, die die Betreuung der Kund:innen und Händler:innen umfasst. Spannend ist, ob in Zukunft auch andere Jungfirmen eher unerfahrene, aber topmotivierte Talente akzeptieren.
„Work anywhere“: Der grenzenlose Arbeitsplatz
Das Home Office lässt sich nach zwei Jahren Corona-Pandemie nicht mehr wirklich als Zukunftskonzept bezeichnen. Bei Startups war die Arbeit von zuhause aus meistens schon vor 2020 völlig normal, doch mittlerweile ist das Prinzip auch bei klassischen Unternehmen komplett angekommen. Ein noch deutlich weniger übliches Konzept ist dagegen „Work anywhere“, also die Arbeit von jedem beliebigen Ort auf der Welt.
Ein wichtiges Beispiel für Work anywhere in Europa bietet das niederländische Startup MessageBird, das im Jahr 2020 zum Unicorn wurde. Seit diesem Jahr gibt es auch eine neue Regelung, laut der Mitarbeiter:innen von jedem Punkt der Erde aus arbeiten können, solange sie in der gleichen Zeitzone wie ihre Team-Mitglieder sitzen. Um eine kontinuierliche Zusammenarbeit und effektive Teamarbeit zu gewährleisten, gibt es eine 80/20-Regel. 80 Prozent der Arbeitszeit müssen sich mit der Arbeitszeit der anderen Team-Mitglieder decken (Trending Topics berichtete).
MessageBird ist das neueste Unicorn aus Europa – und arbeitet jetzt nach dem “Work Anywhere”-Prinzip
Auch Bitpanda hat sich mittlerweile dem Work anywhere-Prinzip verschrieben. Dieses soll es allen Mitarbeiter:innen erlauben, bis zu 60 Arbeitstage pro Jahr von einem Ort der eigenen Wahl aus zu arbeiten. „Um eine effektive Zusammenarbeit zu gewährleisten, müssen jene Mitarbeiter:innen, die von anderen Ländern aus arbeiten, sicherstellen, dass sich 80 Prozent ihrer täglichen Arbeitszeit mit jener ihres Teams überschneiden“, heißt es aus dem Unternehmen. Es zeigt sich, dass die Arbeit über die ganze Welt verteilt durchaus umsetzbar ist, jedoch auch eine präzise zeitliche Organisation erfordert.
“Work Anywhere”-Prinzip: Wenn der Strand zum Schreibtisch wird
Unicorns sind Vorreiter bei Arbeitswelt-Innovationen
Die Vorreiter bei innovativen Arbeitsmodellen sind derzeit vor allem die Unicorns, die sich bereits auf ihren Märkten fest etabliert haben. Gerade sie sind bei ihrer Expansion auf die oft knappen Talente angewiesen und müssen deswegen besonders attraktive Arbeitgeber sein. Auf dem österreichischen Markt zeigt daher besonders das Unicorn Bitpanda allen vor, wie ein modernes Arbeitsumfeld aussehen muss. Sollten sich die Riesenerfolge der Jungunternehmen auch mit diesen Umstellungen fortsetzen, ist es gut möglich, dass auch alteingesessene Firmen diese in Erwägung ziehen. Dadurch können Startups einen großen Einfluss auf die Arbeitswelt der Zukunft haben.