„Stay Home“: Wie lange die soziale Distanz dauern wird und was sie mit uns macht
Das gesellschaftliche Leben in Österreich verändert sich diese Tage – wie überall auf der Welt – erheblich. „Soziale Distanz“ ist ausgerufen, Versammlungsverbote werden ausgesprochen, das öffentliche Leben liegt quasi still. Was macht das mit uns? Und: Wie lange kann diese Phase des „Social Distancing“ noch dauern?
Zieht es die Menschen im Frühjahr eigentlich in die freie Natur, herrscht auf vielen Straßen Wiens und Österreichs derzeit gähnende Leere. Zwar scheint es vereinzelt Menschen zu geben, die glauben, das Virus betreffe sie nicht (oder die die Tragweite noch nicht verstanden haben), insgesamt dürften die Maßnahmen aber größtenteils eingehalten werden.
In den eigenen vier Wänden spielen sich indes andere Szenen ab: „Stay Home“ kann auch Gewalt, Vereinsamung und ganz allgemein psychische Belastung bedeuten. Dazu kommt in vielen Fällen eine finanzielle Ungewissheit. Klar ist in diesen Zeiten vieles nicht – und schon gar nicht, wie lange diese Phase noch dauern wird.
Weiterhin exponentielles Wachstum
Viele Experten sind sich mittlerweile einig, dass das Thema Coronavirus nicht in einigen wenigen Wochen ad acta gelegt sein wird. Die Kurven in vielen Ländern wachsen weiterhin exponentiell und auch in Österreich ist der Höhepunkt noch nicht erreicht. Das mag desillusionierend wirken, ist aber eine Tatsache. Unrealistisch ist es dementsprechend nicht, dass die Heimquarantäne noch ein paar weitere Wochen anhalten muss.
Rudolf Anschober ging gestern Abend in der ZiB davon aus, dass es „keine Wochen, sondern Monate sein werden“, in der wir soziale Distanz üben müssen. Wie lange die Einschnitte im öffentlichen Leben noch bestehen bleiben, hänge von der Evaluierung der gesetzten Schritte ab.
Zusammengefasst also: Niemand kann genau sagen, wie lange das Versammlungsverbot oder die Quarantänephase in den eigenen vier Wänden noch anhält – wohl aber eher Wochen als Tage, wenn nicht gar Monate.
Stay Home!
Anschober, Kurz und Co warnen allerdings nicht aus Spaß das „Social Distancing“ ein. Mediziner und Experten rund um den Globus sind sich einig, dass das Abstand halten die Verbreitung von Covid-19 deutlich einbremsen kann. Das zeigen auch die flachen Verlaufskurven von Beispielen wie Taiwan. Dort wurde frühzeitig mit Maßnahmen gegen die Ausbreitung begonnen, vor allem soziale Distanz und ein frühes Einreiseverbot dürften dem Inselstaat zugute gekommen sein.
Als gegenteiliges Beispiel gilt Großbritannien: Erst war geplant, nur wenig zu unternehmen – wohl, um einerseits die Wirtschaft zu schützen und andererseits das chronisch kranke Gesundheitssystem nicht zu überlasten – Stichwort „Herdenimmunität“. Das ging – nach immenser Kritik zahlreicher Experten – souverän in die Hose, die Schätzungen für dieses Szenario gingen in Richtung hunderttausende Tote. Darum heißt es nun auch auf der Insel „Stay Home“. Auch die Niederlande will die Idee mit der Herden-Immunität nicht weiter verfolgen.
Soziale Distanz: Vorbildliche Österreicherinnen
Generell hat sich die Phrase „Stay Home“ zum gemeinsamen Schlachtruf der Bevölkerung gemausert. Auf Twitter wird damit die Kunde verbreitet und gewarnt, der Mob kann aber auch anklagen und einzelne Personen an den digitalen Pranger stellen. Wie viel das bringt, sei dahingestellt. Tatsächlich verhalten sich die Österreicherinnen und Österreicher im internationalen Vergleich durchaus vorbildlich. Das bestätigt auch eine Umfrage von Gallup. Der Erhebung zufolge sind fast 80 % der Befragten bereit, „Einschränkungen in Ihren persönlichen Freiheiten in Kauf zu nehmen, wenn es hilft, die Ausbreitung des Virus zu verhindern“.
▷ Coronavirus: Bestätigte Fälle, Genesungen und Todesfälle in Österreich
Optimismus herrscht in der Bevölkerung nur zur Hälfte: Während 44 Prozent der Befragten glauben, das Schlimmste steht erst bevor, gehen 45 Prozent davon aus, dass die Situation auf dem aktuellen Stand bleibt. 11 Prozent glauben, Österreich sei bereits über den Berg. Die Zustimmung zum Vorgehen der Bundesregierung ist nach wie vor hoch (63,5 Prozent), nur 16 Prozent zeigen sich unzufrieden. Gallup fragte auch noch, wie die Bewohner des Landes persönlich mit der Situation umgehen.
Die Antworten: „5 % benutzen Schutzmasken und 8 % Handschuhe, die Hälfte verwendet Handdesinfektionsmittel, vor allem die unter 30-Jährigen. 79 % waschen sich die Hände jetzt regelmäßiger. Mehr als die Hälfte (53 %) meiden soziale Kontakte – Personen 50+ deutlich häufiger als die Jüngeren (60 % vs. 47 % der Personen unter 50 Jahren).“ Nur 13 % hätten bisher keine besonderen Vorkehrungen für sich selbst getroffen.
Große Sorgen in Großbritannien und USA
Am Imperial College of London wird ebenfalls geforscht. Ein neuer wissenschaftlicher Bericht betont auch dort: Nur die strengsten Abstandsmaßnahmen können Hunderttausende von Todesfällen verhindern. Unterstrichen wird vor allem die Notwendigkeit, die soziale Distanz über einen langen Zeitraum aufrechtzuerhalten. Der Analyse zufolge würde die „Isolierung bestätigter Fälle und die Quarantäne älterer Erwachsener ohne soziale Distanz immer noch zu Hunderttausenden von Todesfällen“ führen und „eine achtfach höhere Spitzennachfrage nach Intensivbetten über die verfügbare Überlaufkapazität in Großbritannien und den USA hinaus“ zur Folge haben.
Unterdrückung, die eine „soziale Distanzierung der gesamten Bevölkerung“ erfordert, könne mehr Leben retten und verhindern, dass die Krankenhäuser extrem überlastet werden. Sie müsse jedoch „bis zur Verfügbarkeit eines Impfstoffs (potenziell 18 Monate oder länger)“ aufrechterhalten werden, heißt es in dem Bericht. Und er warnt davor, „dass die Übertragung schnell wieder zurückkehrt, wenn die Interventionen gelockert werden“.
Auch Asien noch nicht sicher
Das sieht auch Jennifer Nuzzo, eine Epidemiologin am Johns Hopkins Center for Health Security, so. Auch sie argumentiert, dass die sozialen Abgrenzungsmaßnahmen möglicherweise „noch mindestens Monate in Kraft bleiben müssen“. Es falle ihr allerdings wirklich schwer, sich vorzustellen, „dass dieses Land monatelang zu Hause bleibt“. Das scheint aber alternativlos zu sein: Der Coronavirus ist sehr ansteckend, wobei eine Person im Durchschnitt 2 bis 2,5 andere Personen ohne Präventivmaßnahmen ansteckt – weltweit.
In Österreich steckt eine positiv getestete Person durchschnittlich 1,6 weitere Personen an. Dazu kommt, dass noch kaum jemand dagegen immun ist. Im schlimmsten Fall kann das auch bedeuten, dass es sogar in China wieder auftauchen und eine große Zahl von Menschen infizieren könnte. Der Virus breitet sich aus, bevor die Menschen Symptome zeigen.
Und: Auch wenn es keine steigenden Infektionszahlen in einem Land gibt, heißt das noch lange nicht, dass die Situation überstanden ist. Werden die Auflagen zu schnell gelockert, kommt der Virus voll zurück. Bei der Spanischen Grippe 1918 beispielsweise forderte die zweite Welle im Herbst mehr Todesopfer als die erste Welle im Frühjahr.
Lange Ausgangssperren
Ein Überblick ausgewählter Staaten und ihrer Maßnahmen. Wuhan und Italien zeigen: Ausgangssperren können durchaus einige Wochen dauern.
Italien: Italien ist insgesamt eine Schutzzone, die Bewegungsfreiheit sämtlicher EinwohnerInnen ist stark eingeschränkt. Strikte Ausgangssperre seit 10. März. Könnte demnächst verlängert werden.
Frankreich: Ausgangssperre seit Montag diese Woche.
Südkorea: Schon Ende Februar wurden Einreisestopps und Quarantäne für Einreisende verhängt. Neuinfektionen gingen nach drastischen Schutzmaßnahmen zuletzt deutlich zurück.
Spanien: Ausgangssperre seit der Nacht auf Sonntag. Gilt vorerst für 15 Tage, kann verlängert werden.
Bulgarien hat den Notstand ausgerufen und Unis und Schulen geschlossen.
USA: Notstand in mehreren Bundesstaaten, öffentliche Veranstaltungen sind abgesagt. Unis und Schulen sind geschlossen.
Schweiz: „Außerordentliche Lage“. Öffentliche Einrichtungen haben geschlossen, Skigebiete auch. Auch Restaurants und Läden haben zu. Nur Lebensmittel können noch gekauft werden.
Wuhan/China: Strenge Kontrollen und Ausgangssperren seit dem 23. Januar. Mittlerweile scheint man die Lage im Griff zu haben.
Was jeder selbst machen kann
Die gute Nachricht: Der Virus wird nur dann neue Ausbrüche verursachen, wenn die soziale Distanzierung aufgehoben wird und der keine starke Eindämmungsstrategie hat. Eine Frage bleibt aber offen – und spukt wohl in vielen Köpfen herum: Gelingt es uns, ein Gleichgewicht finden zwischen der Notwendigkeit, „die Kurve zu verflachen“, dem Wunsch nach einen selbstbestimmten Leben und der Notwendigkeit, die Wirtschaft wieder zu beleben?
Angesichts der Wahrscheinlichkeit, dass über Wochen oder Monate hinweg soziale Distanzierungsmaßnahmen erforderlich sind, wird es fraglos herausfordernd, die Stimmung hoch und die Lage überschaubar zu halten. Wie sich die Lage allgemein entwickeln wird, ist weder abzusehen noch großartig positiv zu beeinflussen. Vorerst bleibt nur, zuhause zu bleiben und abzuwarten.
- Die Reduzierung sozialer Kontakte: Es gibt momentan keinen Grund, den Studienkollegen zu besuchen oder sich mit der Freundin im Park zu treffen. Geburtstagsfeiern und ähnliches ist auch im privaten Kreis Irrsinn, das gleiche gilt für „Corona-Partys“ und auch Spieleabende „eh im kleinen Kreis“.
- Abstand halten: Manche Mediziner gehen davon aus, dass das Halten von ausreichend Abstand ebenso wichtig für die Abflachung der Kurve ist wie regelmäßiges Händewaschen. Der Grund: Der Coronavirus überlebt auch eine Weile in der Luft und an diversen Materialien. Also: Immer mindestens einen Meter entfernt von der nächsten Person gehen, stehen oder sitzen – besser sogar zwei. Wer dennoch Sorge hat, anderen Personen zu nahe gekommen zu sein, wäscht sich die Hände ordentlich und greift sich davor nicht unbedingt ins Gesicht.
- Drinnen bleiben: Wann darf ich dann raus? Grundsätzlich: Am besten gar nicht. Frische Luft und ein wenig Bewegung halten allerdings die psychische Verfassung hoch, weshalb Sport im Freien auch erlaubt ist. Das Fahren mit den Öffis zum nächsten Park allerdings nicht. Wer raus geht, hält auch hier Abstand und sich fern von etwaigen größeren Gruppen. Einige Lebensmittelhändler ersuchen darum, die Läden zwischen 8 Uhr und 9 Uhr Vormittags für ältere MitbürgerInnen freizuhalten. Wer antizyklisch einkaufen gehen kann (also nicht zu den Stoßzeiten), sollte das auch machen.
Hilfe bei Sorgen
Letzten Endes wissen wir schlichtweg nicht, wie sich die Kurve und die Ausbreitung weiter verhalten werden. Szenarien gibt es zahlreiche, manche positiver Natur, andere deutlich pessimistischer. Das Problem: Alle Berechnungen möglicher Todesfälle sind mit Unsicherheiten verbunden und hängen stark davon ab, wie die Gesellschaft darauf reagiert. Schätzungen können sich auf der Grundlage von Variablen ändern, die noch nicht ganz klar sind. Im aktuellen Fall wissen wir beispielsweise nicht, welche Rolle Kinder bei der Übertragung des Virus spielen und das saisonale Verhalten des Virus.
Auch darum ist es völlig okay, sich mitunter unsicher oder ängstlich zu fühlen. Wer Sorgen hat, soll diese teilen. Der BÖP, der Berufsverband Österreichischer PsychologInnen, hat ein Informationsblatt „Wie Sie häusliche Isolation und Quarantäne gut überstehen“ veröffentlicht. Empfohlen wird darin unter anderem, sich auf Positives zu fokussieren, das „Grübeln zu begrenzen“ und Entspannungsübungen durchzuführen. Ein kurzer Spaziergang hilft ebenso wie ein Telefonat mit Freunden und Familie. Empfohlen wird außerdem, sich jeden Tag ein „Highlight“ zu schaffen, auf das man sich freuen kann. Das Tagesstruktur und Ablauf wichtig sind, haben wir in unseren Home Office-Tipps bereits zusammengefasst.
Auch Trump rechnet mit Monaten
Der US-amerikanische Präsident galt lange Zeit nicht unbedingt als gut vorbereitet auf die Coronakrise (und wird das wohl auch jetzt nicht sein), aber auch er hat verstanden, dass die aktuellen Maßnahmen noch eine Weile dauern werden. Am Montag fragten ihn Kollegen auf einer Pressekonferenz, wie lange „das alles noch dauern könnte“. Trump: „Die Leute sprechen von Juli, August und so weiter“. Nun sind die USA deutlich schlechter vorbereitet als Österreich und hinken auch zeitlich ein wenig nach – das Zeitfenster könnte aber auch auf uns zutreffen. Die Coronakrise ist nicht in einigen Tagen oder Wochen einfach vorbei.
+++Warum exponentielle Ausbreitungsszenarien so schwer zu fassen sind+++