Interview

Viktor Mayer-Schönberger: „Wir brauchen auch in Zukunft viele unterschiedliche Identitäten“

© Viktor Mayer-Schönberger
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„Indem wir in Europa glau­ben, dass die Macht der digitalen Plattformen darauf beruht, dass sie alles über uns wissen und jedem einzelnen zuordnen können, missverstehen wir die Gefahr der großen Plattformanbieter grundlegend“ – das sagt Viktor Mayer-Schönberger im Gespräch mit Trending Topics. Im großen Interview sprechen wir über verschiedene (digitale) Identitäten, die Macht von Social Media, künftige Gefahren und notwendige Datenschutzregeln.

Trending Topics: Herr Mayer-Schönberger, Sie sind seit Jahrzehnten in der digitalen Welt unter­wegs, als Gründer, Professor, Autor, Privatmensch. Machen Sie eigentlich noch einen Unterschied zwischen ihrer analogen und Ihrer digitalen Identität?

Viktor Mayer-Schönberger: Nein. Aber ich habe auch nie in einer digitalen und einer analogen Identität gedacht, sondern immer in Kontext-bezogenen Identitäten. Schon seit den Arbeiten von Goffmann in den 1950ern wissen wir, dass Menschen sich situations- und kontextabhängig verhalten, vor allem auch um das Bild, das andere Men­schen sich von ihnen machen, zu beeinflussen. Goffmann verwendete das Bild von Kellnerin­nen und Kellnern, die sich gegenüber Gästen anders verhalten als in der Küche – ,,on stage“ und „backstage“ sozusagen. Und genau das tun wir auch in unterschiedlichen analogen und digitalen Kontexten und bauen damit auch selbst an unseren jeweiligen Identitäten.

Face ID, Facebook-Login, Google-Konto, ID Austria: Für Menschen gibt es heute viele verschiedene Möglichkeiten, sich von On­line-Diensten identifizieren zu lassen. Die Anbieter sind sehr unterschiedlich, lassen sich aber in zwei Gruppen einteilen: Staat und Privatunternehmen. Wer wird am Ende die Hoheit über unsere digitale Identität haben? Was präferieren Sie?

Ich denke, ein derartig binärer Blick ver­stellt eher die Sicht als dass er hilft. Es geht ja darum, dass wir Identitätsmechanismen finden, die für die jeweiligen Situationen passen. Also ist es zum Beispiel völlig in Ordnung, für die Anforderung eines Impf­zertifikats eine Identitätsmechanismus zu verwenden, der vom Staat getragen wird. Und wenn ich bei Zalando bezahlen möch­te, eine privatwirtschaftlich organisierte Identität zu verwenden. Zentral dabei ist: Wir brauchen auch in Zukunft viele unter­schiedliche Identitäten, weil wir ja auch in unterschiedlichen Kontexten handeln. Völlig falsch wäre es, wenn wir auf eine einzige Identität hoffen – das wäre ähnlich als würde für unsere sozialen Beziehungen nur mehr Facebook als Plattform zur Verfügung stel­len. Eine gruselige und gänzlich lebensfrem­de Vorstellung!

Sehen Sie Blockchain und die Krypto-Welt als dritten Weg zwischen Staat und privat?

Nein. Blockchain etc. sind ganz bestimmte technische Mechanismen. Eine Identität (ob analog oder digital) ist anderes und mehr.

Sie haben 2002 das Buch „Machtmaschi­nen“ veröffentlicht. Wie stark beruht die Macht von Google, Facebook und Co. auf dem Erfassen unserer Online-Identität? Erklärt sich daraus der Rückstand Europas im weltweiten digitalen Wettrüsten?

Im Gegenteil! Indem wir in Europa glau­ben, dass die Macht der digitalen Plattformen darauf beruht, dass sie alles über uns wissen und jedem einzelnen zuordnen können, missverstehen wir die Gefahr der großen Plattformanbieter grundlegend. Und glauben dann auch ganz falsch, sie mit mehr Daten­schutzregeln in die Knie zwingen zu können. Die Wahrheit ist: Die großen Plattformen sammeln riesige Mengen an Daten, um daraus statistisch zu lernen, also zu verstehen was jemand, der Produkte A und B und C in dieser Reihenfolge kauft, wahrscheinlich als nächstes kauft. Aber denen ist weitge­hend gleichgültig, ob diese Person Viktor Mayer-Schönberger oder Jakob Steinschaden heißt. Die Plattformen lernen also aus Daten, ohne sie bestimmten Identitäten zuzuordnen und daran festzumachen. Wir in Europa haben bis heute nicht verstanden, dass es denen nicht um eine Art Überwachung geht, sondern um eine Art statistisches Lernen
(was oft als KI bezeichnet wird). Und deshalb hilft uns bei der Machtbegrenzung der Platt­formen auch nicht der Datenschutz, sondern die breite Zugänglichkeit von Daten.

Facebook galt lange als die größte Datensammlung über Menschen und als Nummer-1-Provider digitaler Identität. Nun drängen vor allem Fintechs in den Bereich. Nunmehr gilt das digitale Bankkonto als der Heilige Gral der digitalen Identität. Wird unsere finanzielle Identität zu einem neuen Geschäftsmodell?

Das war sie ja bisher schon. Aus unserer finanziellen Identität leitete sich unsere Bo­nität ab, und damit die Möglichkeit Trans­aktionen einzugehen. Was sich wohl ändert in der Zukunft: Es wird leichter werden, unterschiedliche finanzielle Identitäten zu erstellen und zu bewahren. Das ist ein wenig so, als hätten wir viele Kreditkarten zur Verfügung, aus denen wir auswählen könn­ten, ohne aber für jede dieser Karten wie in der analogen Welt eine hohe Jahresgebühr zahlen zu müssen.

Auch im Gesundheitsbereich werden mit Apps und Gadgets immer mehr Da­ten erfasst, auch unser Blut wird bald live ausgewertet werden können. Welche neuen Geschäftsmodelle eröffnet das?

Viele – weil wir uns auch dort mehrfache Identitäten zulegen können und werden – für das Sporteln auch gemeinsam mit anderen oder im Wettstreit, für die Interaktionen mit Ärztinnen und Ärzten, etc.

Bei all den Entwicklungen rund um Smart Home, digitalem Eigentum, loT: Sehen Sie in Zukunft eigentlich überhaupt noch Mög­lichkeiten, dass wir anonym sein können?

Wir waren ja auch bisher kaum wirklich anonym, sondern hatten eben nur viele Identitäten, die wir in unterschiedlichen Kontexten einsetzen. Solange wir uns diese Möglichkeit auch im digitalen bewahren, sehe ich kein Problem.

Apple gibt sich seit geraumer Zeit als Ver­fechter der digitalen Privatsphäre. Kaufen Sie Cupertino das ab?

In einem gewissen Rahmen, ja. Das ist Apples Versuch, sich gegenüber Google und Amazon und Facebook zu differenzieren. Und durch maschinelles Lernen am Gerät (und nicht in der Cloud) und ähnliche An­sätze hat Apple hier Pionierarbeit geleistet. Dass als kommerzieller Anbieter Apple nicht immer maximalen Datenschutz bieten kann, sondern eben auch auf Benutzungsfreund­lichkeit oder gesetzliche Grenzen achten muss, verstehe ich. Und, dass es innerhalb von Apple auch intensive Spannungen und laufende Diskussionen über die Interpre­tation gibt, kann ich auch verstehen – und behalte mir deshalb meinen kritischen Blick bei der Bewertung.

Als Persönlichkeit des öffentlichen Lebens, der bei Politiker:innen, Journalist:innen oder Wis­senschaftler:innen Gehör findet – müssen Sie sich besonders vor Identitäts-Diebstahl schützen? Wurde schon mal versucht, Sie zu hacken oder zu fälschen?

Ja, natürlich. Da geht es mir wie viele Millionen anderer, deren Daten schon durch Hacks bei Kreditkartenfirmen und On­lineanbietern zugänglich wurden. Und das bedeutete Arbeit, weil Passwörter geändert, Konten gesperrt und Karten ersetzt werden mussten. Ich denke, da müssen wir bei den Strafverfolgungsbehörden mit mehr Personal und mehr Expertise bewusst „aufrüsten“. Damit klar ist, dass Identitäts-Diebstahl kein Kavaliersdelikt ist.

Viktor Mayer­-Schönberger ist Rechtswissenschaftler und Professor für „Internet Governance and Regulation“ an der Universität Oxford. Für Deutschland sitzt er außerdem im 2018 geschaffenen Digitalrat der Bundesregierung. Das Interview erschien zuerst im Magazin „Digitale Identität“.

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