Lebensmittelretter „Wiener Tafel“: „Für uns hat sich eigentlich alles geändert“
Seit mittlerweile 21 Jahren rettet die „Wiener Tafel“ Lebensmittel vor dem Müll und verteilt sie an Sozialorganisationen und Bedürftige. 676.000 Kilogramm an Lebensmitteln waren es vergangenes Jahr. Gegründet wurde die Organisation einst von drei Studenten, die das Konzept der Tafeln in Deutschland kennengelernt hatten. „Vor 21 Jahren war es sehr schwierig, den Handel davon zu überzeugen“, erzählt die heutige Geschäftsführerin der Wiener Tafel, Alexandra Gruber, im Interview mit Tech & Nature. Erst kürzlich konnte die Wiener Tafel mit dem „Großen TafelHaus“ ein neues Logistikzentrum und Lager am Großmarkt in Wien eröffnen.
Welche Herausforderungen hat Corona für die Wiener Tafel gebracht?
Alexandra Gruber: Für uns hat sich eigentlich alles geändert. Unsere ehrenamtlichen Helfer sind großteils 60+ und konnten nicht mehr mithelfen. Auf der anderen Seite haben die strengen Hygienemaßnahmen natürlich verändert, wie und wieviele Menschen in einem Raum arbeiten dürfen. Die Warenspenden waren auch ganz anders. Es kam wenig aus den Supermärkten, dafür sehr viele Waren aus der Produktion, die plötzlich übrig geblieben sind. Große Mengen sind auch aus der Gastronomie gekommen, die wir über die Wiener Tafel weitergeben konnten. Und schließlich hat sich auch der Bedarf geändert – einige Einrichtungen waren geschlossen, andere hatten mehr Bedarf. Nach wie vor sind wir auch bei der Logistik weit weg von jeder Routine. Früher hatten wir Tagestouren mit Fixpunkten wie Spender oder soziale Einrichtungen. Jetzt müssen wir jeden Tag komplett neu planen. Das wird uns sicher noch bis ins nächste Jahr hinein begleiten.
Wie ist die Wiener Tafel damit umgegangen, dass viele Ehrenamtliche nicht mehr mitmachen konnten?
Teilweise haben uns Warenspender in dieser Zeit selbst beliefert. Teilweise mussten wir auf Speditionen ausweichen. Mittlerweile hat sich die Mitarbeit von Ehrenamtlichen aber normalisiert. Auch Menschen über 60 Jahre können jetzt wieder mitarbeiten, wenn sie keine Vorerkrankungen haben. Mittlerweile sind 75 Prozent wieder aktiv. In der Coronazeit selbst hatten sich viele junge Leute bei uns gemeldet – dann hatten wir aber aufgrund der Maßnahmen oft ein Platzproblem, etwa beim Sortieren, wo viele Menschen auf engstem Raum arbeiten.
Habt ihr gespürt, dass viele Menschen in der Zeit des Lockdowns mehr Zeit hatten?
Ja, da gab es viele neue Interessenten, vor allem junge. Wir hatten virtuelle Infoabende, bei denen sich teilweise 100 Personen angemeldet hatten – bei normalen Infoabenden kommen etwa 30 Menschen. Wir haben aber auch viele Möglichkeiten für berufstätige Menschen, mitzumachen. Am Samstag sammeln wir zum Beispiel am Naschmarkt und auch die Fahrten werden über einen Kalender ganz flexibel organisiert. Man kann ja auch nur einmal im Monat mitmachen oder alle zwei Monate. Wir hoffen, dass uns viele der Neuen die Treue halten.
Wer sind eure größten Lebensmittel-Spender?
Großhändler wie Kastner oder Metro, aber auch einzelne Supermarkt-Filialen, die wir weiterhin anfahren. Manchmal vernetzen wir Filialen auch direkt mit sozialen Einrichtungen in deren Nähe, die die Spenden direkt abholen. Auch einzelne Produzenten spenden – das können zum Beispiel Paradeiser sein, die wir von einem großen Tomaten-Produzenten abholen, oder Fertigmenüs oder Schokolade, die gespendet wird. Teilweise bekommen wir auch Spenden aus der Landwirtschaft, da ist aber noch Überzeugungsarbeit notwendig. Bei haltbaren Lebensmitteln freuen wir uns immer wieder über Sammelaktionen.
Schafft ihr es immer, alle Spenden zu verteilen?
Wenn wir es nicht schaffen, haben wir Partner, die uns den Überschuss abnehmen – zum Beispiel andere Tafeln oder die Caritas. Wir verkaufen keine Waren, wir geben sie gratis an Sozialmärkte weiter, wenn die Überschüsse für uns zu groß sind. Diese verkaufen diese zu einem Drittel vom Originalpreis weiter. Wir haben auch vor einigen Jahren Foodsharing mitgegründet, wo Privat zu Privat getauscht werden kann – da haben wir auch einen Verteiler, in den Obst und Gemüse, das wir nicht weitergeben konnten, kommt. Vor Corona haben wir auch viel selbst eingekocht. Manchmal bekommt man zu viel auf einmal und es wird zu schnell schlecht. Auch bei Brot ist das ein Thema. Brot ist ein Lebensmittel, von dem eigentlich immer zu viel da ist. Wir haben gerade ein Projekt mit der MA22 laufen, in dem es darum geht, was man mit altem Brot machen kann.
Hat sich in der Coronazeit aus ihrer Sicht der Umgang mit Lebensmitteln grundsätzlich geändert?
Die Boku macht dazu immer wieder Analysen und die hat uns gesagt, dass sich durch die Krise in diesem Bereich nicht viel geändert hat. In der Zeit, in der viel gehamstert wurde, waren auch viele haltbare Lebensmittel für den Ernstfall dabei. Da hat man jetzt vielleicht gar nicht die Lust, das wirklich zu verwenden und manchmal landet das dann Jahre später im Müll. Dabei sind solche Lebensmittel manchmal ein Jahr länger haltbar, als das Hindesthaltbarkeitsdatum vermuten lassen würde.
Die Wiener Tafel hat 2019 676.000 Kilogramm Lebensmittel gerettet – gibt es da noch Luft nach oben? Habt ihr euch Ziele gesteckt?
Es werden ungefähr 700.000 Tonnen Lebensmittel pro Jahr weggeworfen. Die Tafeln und Sozialmärkte retten davon 2 bis 3 Prozent. Da sind wir im Europa-Vergleich ganz gut. Es ist aber sehr unterschiedlich: Der Handel ist sehr weit bei der Rettung von Lebensmitteln, andere Bereiche wie die Landwirtschaft hinken hinterher. Das Potenzial ist groß, es ist aber oft eine Frage der Logistik. Daran scheitert es oft.
Was hat das große TafelHaus ermöglicht oder einfacher gemacht?
Wir sitzen jetzt mit unserer Logistik-Zentrale am selben Ort, wo die Waren auch umgeschlagen werden. Bisher waren das Logistikzentrum in Simmering und nur das Lager, das kleine TafelHaus am Großmarkt. Dieser Umzug macht vieles einfacher. Und wir haben viel mehr Platz. Im Freien haben wir einen Kühl-Container aufgestellt und mit Ende des Jahres sollten wir noch Kühllagerflächen dazu bekommen. Dann haben wir 400 Quadratmeter Kühl- und Trockenlager zusätzlich. Auch das Sortieren kann dann unter Dach erfolgen – derzeit sind wir dazu im Freien, das wird aber schwierig, wenn das Wetter umschlägt. Durch die Kühlfläche können wir mehr und länger lagern und dadurch sind auch das Angebot und die Auswahl für soziale Einrichtungen oder andere Tafeln größer.