Zu lange Wege: Wiener Forscher sehen „The Line“ kritisch
In Saudi-Arabien entsteht derzeit ein ungewöhnliches Bauprojekt namens „The Line“ – eine 170 km lange Bandstadt, die ohne Autos, Straßen und Kohlendioxidemissionen auskommen soll. Erste Erdbauarbeiten haben im November 2021 begonnen. Die langfristigen Pläne sehen eine Bevölkerung von neun Millionen Menschen auf einer Fläche von 34 km² vor. Die gesamte Stadt soll aus zwei ununterbrochenen Reihen von 500 m hohen Wolkenkratzern mit einer Breite von 200 m bestehen. Die Gebäude würden somit höher sein als das Empire State Building und alle anderen Bauwerke in Europa, Afrika und Lateinamerika. Wiener Forscher haben sich intensiv mit der geplanten Mega-Stadt befasst und warnen vor einem Pendel-Chaos.
Effizienter Transport spielt eine Schlüsselrolle für den Erfolg von Städten
Die beiden Wiener Komplexitätsforscher Rafael Prieto-Curiel und Dániel Kondor haben sich mit der Lebensqualität in der zukünftigen linienförmigen Stadt beschäftigt und – nicht unbedingt verwunderlich – schlechte Nachrichten. Sie deuten an, dass die Stadt nach Fertigstellung mit erheblichen Pendelproblemen konfrontiert sein wird: „Die Entfernungen entlang der Linie dürfen nicht vernachlässigt werden. Obwohl es nicht das erste Mal ist, dass eine gerade Linie als Stadtumriss konzipiert wird, handelt es sich hierbei um das bisher größte Bauprojekt dieser Art.“
Kein Wunder, Regierungen auf der ganzen Welt kämpfen darum, die Infrastruktur bereitzustellen, die ihre Städte zum Gedeihen benötigen. Lange Pendelzeiten verringern die Lebensqualität der Bewohner, während verkehrsbedingte externe Effekte einen erheblichen Teil des ökologischen Fußabdrucks der Stadtbewohner ausmachen. Kürzere Arbeitswege und die Förderung aktiver Mobilität und öffentlicher Verkehrsmittel sind in letzter Zeit zu entscheidenden politischen Zielen geworden. Das Erreichen solcher Ziele hängt in hohem Maße von der Stadtform ab und genau die soll für Schwierigkeiten sorgen.
47 % der Bevölkerung pendelt mehr als 60 Minuten
Laut ihrem Bericht in der Fachzeitschrift NPJ Urban Sustainability werden in The Line durchschnittlich 53.000 Menschen pro Quadratkilometer leben, sofern die Bevölkerung gleichmäßig verteilt ist. Zwei zufällig ausgewählte Personen in der Stadt würden somit im Durchschnitt 57 km voneinander entfernt wohnen. Aufgrund der großen Entfernungen werde die „aktive Mobilität“ in The Line somit zur Herausforderung. Alltägliches wie die Fahrt zur Schule, Arbeit würde zwingend die Nutzung öffentlicher Verkehrsmittel erfordern. Das auch, weil private Transportmittel ohnehin nicht vorgesehen sind.
Die Hauptherausforderung bei The Line liegt also in der Schaffung eines Ferntransportsystems, das eine umfassende Vernetzung ermöglicht. Aber: Um sicherzustellen, dass jeder zu Fuß einen Bahnhof erreichen kann, sind mindestens 86 Bahnhöfe erforderlich. Allerdings führt genau diese benötigte hohe Anzahl dazu, dass Züge häufig halten, was ihre Durchschnittsgeschwindigkeit verringert. Eine Fahrt von einem beliebigen Punkt entlang der Linie zum anderen würde dementsprechend im Durchschnitt mindestens 60 Minuten dauern, inklusive Fußweg zum und vom Bahnhof, Wartezeit auf den nächsten Zug und Fahrt mit einem häufig haltenden Zug. Bei 86 Stationen müssten die Menschen vor Ort im Durchschnitt fast 18 Minuten von ihrem Ausgangspunkt zur nächsten Station laufen.
“Unabhängig von der Anzahl der Stationen wird mindestens 47 % der Bevölkerung eine Pendelzeit von mehr als 60 Minuten haben, was bedeutet, dass die meisten Menschen zu weit von ihrem Ziel entfernt wohnen. Die Pendelzeiten der Bevölkerung von The Line werden länger sein als in viel größeren Städten wie Seoul, wo 25 Millionen Menschen in der Metropolregion weniger als 50 Minuten zur Arbeit benötigen”, fassen die beiden Wiener zusammen.
The Circle statt The Line
Prieto-Curiel und Kondor schlagen vor, dass eine Stadt namens „The Circle“ eine alternative Lösung darstellen könnte. Die beiden betonen, dass eine runde Stadtform äußerst wünschenswert ist, da sie die Pendelwege verkürzt und den Energiebedarf für den Transport reduziert.
Dabei würden die gleichen hohen Gebäude wie in „The Line“ verwendet, jedoch würden sie nebeneinander platziert, um eine kreisförmige Form zu schaffen. Ein solcher Kreis, der die gleiche Fläche wie „The Line“, also 34 km², einnimmt, hätte einen Radius von lediglich 3,3 km. In „The Circle“ wäre die durchschnittliche Entfernung zwischen zwei beliebigen Personen demnach nur 2,9 km.
In „The Circle“ könnte eine Person zu Fuß etwa 24 % der Bevölkerung erreichen. Innerhalb von 2 km wären es etwa 66 % der Ziele, was bedeuten würde, dass ein Großteil der Mobilität tatsächlich aktiv gestaltet werden könnte. Ein Hochgeschwindigkeits-Bahnsystem wäre in „The Circle“ nicht erforderlich, da die meisten Orte zu Fuß oder mit dem Fahrrad erreichbar wären und Busse die restlichen Fahrten übernehmen könnten. Der Kreis würde ungefähr die gleiche Fläche wie die Stadt Pisa in Italien einnehmen, hätte jedoch die 50-fache Bevölkerung.
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